Spanien: Entsetzt schauen wir auf die Flutkatastrophe. Stuttgart ist besonders anfällig für Überflutungen. Das wird durch das Bauprojekt Stuttgart 21 und die zunehmende Bodenversiegelung verschärft. Historisch dokumentierte Überschwemmungen werden verdrängt. Das Tal und der Nesenbach, der als Wasser- und Abwasserkanal dient, sind bei Starkregen extrem gefährdet. Strukturelle Veränderungen am Kanalsystem verringern die Abflussleistung und behindern natürliche Abflüsse. Kritiker warnen, dass ohne effektive Schutzmaßnahmen ein hoher Sach- und Personenschaden droht. Dieter Reicherter vom Aktionsbündnis S21 beschreibt diese reale, verdrängte Gefahr.
Überflutungsgefahr: Stuttgart 21 und Hexenverbrennungen
Die Landeshauptstadt hat unter den deutschen Großstädten nahezu ein Alleinstellungsmerkmal, was die Überflutungsgefahr anbelangt. Der enge Talkessel wird von Hängen gesäumt, von denen bei Starkregen das Wasser herabstürzt. Als Abfluss dient der Nesenbach – gleichzeitig Abwasserkanal -, welcher vollständig verdolt ist. Bei Starkregenereignissen muss er mehr Wasser abführen als der Neckar im Sommer.
Archäologische Untersuchungen belegen fortlaufende Überschwemmungsereignisse im Zeitraum der letzten 10.000 Jahre. Schriftliche Chroniken berichten pro Jahrhundert von durchschnittlich 5 schweren Überschwemmungen. 1272 stürzten die Mauern des damaligen Stuttgarter Schlosses unter dem Druck der Wassermassen ein. Am 3. August 1562 führte ein Unwetter mit Hagel zu schlimmen Schäden. Dafür wurden einige Frauen verantwortlich gemacht und als Hexen verbrannt. Am 1.7.1889 liefen sämtliche Keller im Stadtzentrum voll. Im Gedächtnis geblieben ist das Unwetter vom 15.8.1972 mit sechs Toten und 31 Verletzten, als die Unterführung am Charlottenplatz durch Hagelkörner und Wasser überflutet wurde. Zuletzt gab es im Juni 2021 mehrere schwere Unwetter mit Überflutungen der Schillerstraße und der Klettpassage.
Dazu der Deutsche Wetterdienst: „Im Feld Starkregenereignisse ragt Stuttgart als die am meisten gefährdete Region Deutschlands hervor.“ Bereits der Klimawandel führt dazu, dass extreme Starkregenereignisse, die statistisch gesehen alle 200 Jahre auftraten, jetzt alle 30 Jahre zu erwarten sind. Verschärft werden die Risiken zudem durch die weitgehende Bodenversiegelung im Talkessel. Diese hat in Stuttgart allein in den letzten Jahren um 1 km², somit die Fläche des Innenstadtrings, zugenommen. Zu fragen ist, ob sich die sowieso schon bedrohliche Situation durch Stuttgart 21 zusätzlich verschlechtert hat.
Spanien November 2024 – 1600 km südlich von Stuttgart –
für Wolken ein Katzensprung
Warnungen in den Wind geschlagen
Abwasserhauptkanäle waren dem Bau des Bahnhofstroges im Wege. Deswegen mussten sie gedükert, das heißt abgesenkt und unter dem Bau hindurchgeführt werden. Das war mit Änderungen des Querschnittes, Führung über Winkel, verändertem Gefälle und anderen baulichen Maßnahmen verbunden. Folge ist eine Verringerung der Abflussleistung insgesamt. Am schlimmsten betrifft dies die Lautenschlagerstraße mit drastischer Reduzierung. Dadurch hat dort die Überflutungsgefahr erheblich zugenommen.
Die Stuttgarter Kanalisation ist auf eine Höchstleistung von 150 Litern pro Sekunde und Hektar ausgelegt. Tatsächlich beläuft sich bei Starkregen von 15 Minuten Dauer die Wassermenge jedoch auf 235 l/s/ha. Somit kann das Wasser nicht vollständig über die Kanalisation abgeführt werden, sondern muss oberirdisch abfließen. Der natürliche Abfluss vom Stadtzentrum führt über Oberen, Mittleren und Unteren Schlossgarten zum Neckar. Wird dieser Abfluss schon durch die erhöhte Schillerstraße erheblich behindert, so bildet der bis zu 8 m über den Erdboden hinausragende Baukörper des Tiefbahnhofs eine neue Barriere. Es verbleibt lediglich eine schmale Abflussrinne, wo zuvor über die gesamte Talbreite das Wasser abfließen konnte. Dies führt bei extremen Niederschlagsmengen dazu, dass sich im Bereich Tiefbahnhof/Schillerstraße ein tiefer See bilden wird. Das vom Tiefbauamt der Landeshauptstadt beauftragte Ingenieurbüro Dahlem hat dies mit seiner Untersuchung bestätigt. Das Ergebnis kann auf der Homepage der Stadt Stuttgart abgerufen werden: https://maps.stuttgart.de/starkregen/#
Überfluteter Stuttgarter Tunnel im Jahr 1972
Gefahr erkannt, aber nicht gebannt
Als unmittelbare Folge des Rückstaus werden die Wassermassen in die Klettpassage und weiter in die Ebenen der U-Bahn und der S-Bahn sowie in den Tiefbahnhof strömen. Für Menschen an den genannten Orten verbleiben keine Fluchtwege. Deswegen wurden bei der Genehmigung von Stuttgart 21 mobile Schutzmaßnahmen vorgesehen. Abgesehen davon, dass solche in der Kürze der Zeit im Katastrophenfall nicht umsetzbar sind, gibt es diese bislang gar nicht, obwohl die gefährliche Riegelwirkung des Tiefbahnhofs bereits besteht. Für die Klettpassage sind die SSB und die Deutsche Bahn gemeinsam verantwortlich. Bei einer derartigen Überflutung wird die Infrastruktur auf Monate nicht mehr nutzbar sein. Stadtbahnen, S-Bahnen und alle Züge im Tiefbahnhof mit seinen Tunneln werden nicht mehr verkehren können. Wassermassen, die den Tiefbahnhof erreichen, würden wegen des Gefälles in die Tunnel Ober- und Untertürkheim abfließen und auch dort entsprechende Schäden anrichten.
Doch nicht genug damit: Starkregenereignisse können auch ein Ansteigen des Grundwasserspiegels zur Folge haben. Bei zu starkem Anstieg wird durch dafür vorgesehene Öffnungen in den Wänden das Grundwasser in den Tiefbahnhof geleitet. Dies ist notwendig, weil er sonst aufschwimmen würde. Auch in den Tunneln Obertürkheim und Untertürkheim sind entsprechende Überlaufvorrichtungen angebracht.
Die Grafik zeigt, wie bei Starkregen das Oberflächenwasser durch das Dach des Tiefbahnhofs aufgestaut wird. Die schmale dort verbliebene Abflussrinne kann die Wassermengen nicht bewältigen. Während vor dem Bau das Oberflächenwasser bei 240,1 Meter über Normalnull seinen Höchststand erreichte, werden es künftig 243,0 m sein.
Wer übernimmt Verantwortung?
Im Zuge der Arbeiten für Stuttgart 21 sind somit unumkehrbare Fakten geschaffen, die das Überflutungsrisiko gefährlich steigern. Höchste Zeit also, wirksame Vorsorgemaßnahmen anzugehen. Wenigstens werden die Verantwortlichen im Katastrophenfall nicht verbrannt werden, sondern dürfen auf einen rechtsstaatlichen Prozess hoffen.
Dieter Reicherter
Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21
Bilder: Wikipedia, Uli Kraufmann, Engelhardt / Heydemann