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Oper Sancta Susanna in Stuttgart – ein Skandal?

18. November 2024

Blasphemie in der Stuttgarter Oper? Das suggerierte die Presse. Ging die Oper zu weit? Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut. Kunst darf und muss Tabus brechen, denn sie verstecken oft die Wahrheit. SÖS-Stadträtin Guntrun Müller-Enßlin ist als Theologin prädestiniert, das zu beurteilen. Als kulturpolitische Sprecherin unserer Fraktion ist sie zudem im Verwaltungsrat der Oper. Sie kommt zu einem anderen, spannenden Urteil. Lesen Sie ihren Bericht.

Manchmal haben auch Kulturereignisse das Zeug, sich wochen- oder gar monatelang in den Medien zu halten. So war es bei der „Skandaloper“ Sancta Susanna, die bei vielen Stuttgarter Gemütern die Emotionen hochkochen und Wellen schlagen ließ.

Worum geht es? Sancta Susanna ist eine Oper des Komponisten Paul Hindemith, genauer gesagt die dritte von drei Operneinaktern des Jahres 1921. Sie dauert nur 25 Minuten. Es geht darin um eine Auseinandersetzung der Nonne Susanna mit den klösterlichen Gelübden Armut, Keuschheit, Gehorsam und um ihr sexuelles Erweckungserlebnis.

Ursprünglich plante Hindemith, seine drei Einakter zusammen in Stuttgart (!) uraufzuführen, was jedoch die allgemeine Empörung über den als gotteslästerlich empfundenen Text verhinderte. Auch die Uraufführung im Frankfurter Opernhaus 1922 geriet zum Skandal. Man bemühte sich damals um die Absetzung des Stücks, der katholische Frauenbund veranstaltete eine dreitägige Sühneandacht.

Wie ein Dejavue mutet es deshalb an, wenn ein Jahrhundert später – wieder in Stuttgart – die Aufführung von Sancta Susanna in einer Inszenierung von der österreichischen Choreographin und Performancekünstlerin Florentina Holzinger zum Eklat gerät. Diesmal dauert die Inszenierung nicht 25 Minuten sondern fast drei Stunden. Von obszöner Verletzung von Gefühlen ist in der Öffentlichkeit die Rede, gar von Gotteslästerung, die direkt aus der Hölle komme. Ironie des Schicksals, pikanter Zufall? Immerhin wurde die Opernperformance bereits in Schwerin und Wien aufgeführt – mit positivem Echo und ausbleibender Empörung.

Vorhang auf! Für hohe Kunst, unbequeme Zeitkritik oder Blasphemie?

Angesichts des Medienhypes in Stuttgart, der die Inszenierung abwechselnd verteufelte und in den Himmel lobte, habe ich eine Aufführung von Sancta Susanna besucht, um mir selbst ein Bild zu machen.

Ich erlebte: ein Publikum, das deutlich diverser war als sonst, eine Tatsache, die ich nur positiv sehen kann.

Ich erlebte: eine Bühnenperformance zum Thema Frau, Sex, katholische Kirche mit beeindruckendem Bühnenbild. Dass Florentina Holzinger vorwiegend – oder nur? – Frauen auf die Bühne bringt, war mir bereits bekannt, dass sie häufig mit nackten Menschen inszeniert, auch. Insoweit konnte mich die Aufführung nicht schocken. Übrigens, was die Sexszenen angeht: Enttäuschung wohl für von der Presseberichterstattung angelockte Voyeuristen. Man sieht nicht sehr viel. Die entsprechenden Darstellerinnen waren nämlich im hinteren Teil der Bühne etabliert, und die Körper verschwammen mit dem im gleichen Farbton gehaltenen Hintergrund der Leinwand.

Ich erlebte: einen in die Gegenwart transponierten von einer queeren Darstellerin verkörperten Jesus, der mit Vitalität und einer Riesenportion Humor gesegnet war; der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich, wie einst der historische Jesus, mit Außenseitern, Künstler*innen, Avantgardist*innen etc. umgeben würde und alles andere als ein Spießer wäre. Übrigens ist der Vorwurf der Gotteslästerung in und aus religiösen Kreisen nicht neu. Schon Jesus selbst war von ihm betroffen und wurde aufgrund dieser Anklage des Todes schuldig gesprochen und gekreuzigt. Schon zuvor war er bei den braven Rechtgläubigen seiner Zeit angeeckt. Sie beanspruchten für sich, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und bezeichneten Jesus als Fresser und Weinsäufer, der sich mit Zöllnern und Huren umgebe und die Gesetze breche.

Ich erlebte: eine kleinwüchsige Päpstin, deren Auftritt und Performance mich mehr als alles andere berührt hat.

Ich erlebte: viele, viele, witzige Szenen, gut gemachte Zaubertricks und interessante Statements von Frauen unserer Tage zum Thema Scham, Sünde, Selbstbehauptung und Auferstehung.

Ich erlebte: die zweifellos grenzwertige, aber auch sehr eindrückliche Szene einer Mini-OP, in deren Verlauf eine Akteurin einer anderen ein Stück Haut aus der Seite schnitt; danach legte jemand den Finger in die Wunde. All das war per Leinwandprojektion in Großaufnahme zu verfolgen – vermutlich nicht jederfraus Sache, auch meine nicht. Aber wie war das doch mit dem Jesusjünger Thomas, der seinen Finger in die Wunde von Jesus legte, um zu realisieren, dass er auferstanden war? Will sagen: Die Evangelien sind auch nicht zimperlich in ihren Beschreibungen, auch dann nicht, wenn Jesus beim Abendmahl seine Jünger auffordert, in Zukunft zu seinem Gedenken seinen Leib zu essen – freilich nur in Gestalt eines Stück Brots. Die Operninszenierung spielte mit dieser Aufforderung, indem sie sie auf skurrile Weise wörtlich nahm und auf die Spitze trieb: Es war nämlich zu sehen, wie die operierte Darstellerin ihr Stückchen Haut auf einem Grill briet und es einer anderen auf die Zunge legte. Geschmacklos, witzig oder originell? Darüber kann man streiten. Für mich hätte es das nicht gebraucht, aber Blasphemie ist was anderes.

Ich erlebte: Musik aller Genres, geistlicher Gesang und fetzige Gitarrensoli, wunderbar dargeboten. Gegen Ende der Oper triftete mir dieselbe allerdings etwas zu sehr ins Nachbargenre Musical ab. Es wurde mir zu lang, am Schluss auch etwas seicht, und die Message mündete, wenngleich sie schön war, ins Triviale. Nach dem Motto: Habt euch alle lieb, dann wird schon alles gut werden.

Alles in allem: Die Oper war über weite Strecken kurzweilig und etwas Besonderes, sie war unterhaltsam und regte mit ihrer konsequent weiblichen Perspektive zum Nachdenken an. Sie war mitnichten die Skandaloper, als die sie in der Öffentlichkeit kolportiert wird. Der Hype und das entrüstete pseudomoralische Gepolter mitsamt der Diffamierung von Florentina Holzinger ist in keiner Weise gerechtfertigt.

Übrigens: Schön, dass mein biblischer Lieblingssatz, ein Ausspruch des historischen Jesus, zitiert wurde: Das Reich Gottes ist mitten unter Euch (aber keiner schaut hin). Aus meiner Sicht hat Florentina Holzinger die jesuanische Botschaft überraschend gut verstanden.

Bild: SÖS


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