Es muss nicht immer Jahre dauern, bis sich Projekte in der Kommunalpolitik verwirklichen lassen. Diese Erfahrung durften wir diesen Sommer mit der Etablierung des ersten Open Pianos in Stuttgart machen. Die Idee dazu entstand bei einem Bummel durch Jerusalem im vergangenen Herbst, wo auf öffentlichen Plätzen zwei Klaviere für spielfreudige Passant*innen bereit standen. Ob sowas auch für Stuttgart möglich wäre, fragte mich damals mein Sohn. Im März machte ich mit einem entsprechenden Antrag ans Kulturamt einen ersten Aufschlag – mit erfreulichem Echo in den Medien und bei Privatpersonen, die sich mit Angeboten, für das Vorhaben ein Klavier zu spenden, bei mir meldeten. Mit Markus Niewienda war auch bereits ein Fachmann gefunden, der bei der Wartung und Stimmung der Instrumente behilflich sein konnte. Fehlte nur noch ein Standort für das Open Piano. Verhandlungen mit der SSB verliefen erfreulich und mündeten in die Zusage einer witterungssicheren Stellmöglichkeit in der Unterführung des Charlottenplatzes.
Mit dem Einstieg von Menja Stevenson bekam unser „Open Piano“ sein besonderes Gesicht – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Leiterin der Jugendkunstschule schuf mit Kindern und Jugendlichen ein Klavierwesen mit wimpernbesetzten Kulleraugen, vollen roten Lippen, Glitzeroutfit und Füßen mit langen roten Zehennägeln: Die Open-Piano-Queen „La Queer“ war geboren. Pünktlich am Vorabend des Christopher Street Days wurde sie in unmittelbarer Nähe zu den ein- und ausfahrenden Stadtbahnen aufgestellt und am gleichen Nachmittag mit einer tollen Performance von Sandra Hartmann (Gesang) und Oliver Prechtl (Klavier) zum Klingen gebracht.
Doch die Freude über die neuen Töne im Charlottenplatz währte zunächst nicht lang. Nicht überall fand unsere Queen „La Queer“ Anklang. In der Nacht nach dem CSD wurde sie von Unbekannten übel zugerichtet und ihr Mund in Stücke gerissen. Doch wir waren uns rasch einig: Aufgeben war keine Option. La Queer wurde nach allen Regeln der Kunst verarztet und war alsbald wieder spielbereit.
Die Attacke, die „La Queer“ über sich ergehen lassen musste, hat ihr ungeahnte Popularität beschert und sie weit über Stuttgart hinaus bekannt gemacht. Bis in die Landesschau hat sie es geschafft. Und der Zuspruch an uns Initiatoren durch die Bevölkerung, ob sie nun selbst in die Tasten greift oder „nur“ zuhört, ist überwältigend. Das rührendste Votum erreichte uns mit einem Plakat, auf dem in Kinderschrift geschrieben stand: „Zerstört das Klavier nicht! Das ist eine schöne Idee!“ Stimmt. Denn Musik verbindet. Sie ist ist kultur- und gesellschaftsübergreifend, überwindet Sprachgrenzen und schafft Fröhlichkeit. Die allermeisten Menschen verstehen und würdigen das. Derzeit sieht es ganz so aus, dass das inklusive Kulturprojekt „Open Piano“ in Stuttgart Erfolgsgeschichte schreibt. Wir hoffen, dass die Open-Piano-Queen noch vielen spielwilligen Passant*innen Gelegenheit gibt, den Charlottenplatz mit Tönen – und Freude zu füllen. Bis mindestens Ende September soll sie stehen bleiben.
Fotos: Guntrun Müller-Enßlin