Zu wenig zum Sterben, zu viel zum Leben
SÖS: Guntrun, Du bist seit 2014 für SÖS Mitglied im Stuttgarter Gemeinderat und kulturpolitische Sprecherin unserer Gemeinderatsfraktion. Zu den Haushaltsberatungen für den Doppelhaushalt 2024/25 habt ihr unter dem Stichwort KULTUR auf 34 Seiten Anträge eingereicht. Wie hat die Verwaltung, wie haben die Kolleg:innen im Gemeinderat auf eure Anträge in den Beratungen reagiert? Wurde das Geld gerecht und transparent verteilt?
Guntrun Müller-Enßlin: Das kann man leider nicht behaupten. In der Grünen Liste des Oberbürgermeisters fand die Kultur nicht mal Erwähnung, bzw. nur in bestimmten Bauprojekten wie der Opernsanierung und dem geplanten Film- und Medienhaus. Das zeigt schon, wohin der Hase in Sachen Kultur in Stuttgart läuft. Und die Schieflage in ihrer Gewichtung. Noch immer wird auf sogenannte Leuchttürme gesetzt, oft verbunden mit Großbauten und aus dem Ruder laufenden Baukosten. Für diese werden über Jahre hinweg immer aufs Neue Planungsmittel eingestellt, so dass man am Ende zum Projekt selbst nicht mehr Nein sagen kann. Das Nachsehen hat die Infrastruktur der bestehenden Kulturlandschaft mit kleineren bis mittelgroße Institutionen, von denen etliche nach wie vor chronisch unterfinanziert sind.
SÖS: Gibt es erfolgreiche Anträge zur Kultur, über die du besonders froh bist?
Wieder ein Klavier für alle
Guntrun Müller-Enßlin: Natürlich bin ich froh über jeden Antrag aus der Kulturszene, der unter anderem mit der Unterstützung unserer Fraktion in vollem Umfang bewilligt wurde. Das waren unter dem Strich doch recht viele aus den verschiedensten Kulturbereichen. Auch dass der Antrag der Stuttgarter Theater zur Dynamisierung der Personalkosten eine breite Mehrheit gefunden hat, erfüllt mich mit Freude. Es könnte die Theater deutlich entlasten, wenn sie in Zukunft selbstverständlich auf eine Abfederung von steigenden Tariflöhnen bauen und ihre Mitarbeiter angemessen bezahlen können. Was mich nachgerade glücklich macht, ist die breite Zustimmung aus fast allen Parteien zu meinem Antrag bezüglich der Fortsetzung des niederschwelligen Kulturprojekts „Open Piano“, das in der zweiten Hälfte 2023 eine äußert erfolgreiche Pilotphase durchlaufen hat. Es wird also auch 2024 und 2025 wieder ein „Klavier für alle“ am Standort Charlottenplatz geben, wofür pro Haushaltsjahr 8000 Euro zur Verfügung stehen.
SÖS: Du engagierst dich als Mitglied des Gemeinderates in den Beiräten Kinder‐ und Jugendkultur (JES), des Vereins Altes Schauspielhaus und der Komödie im Marquardt, im FITZ! Zentrum für Figurentheater, der Freien Kunstschule Stuttgart und im Beirat Theater Die Rampe. Kulturinstitutionen, die so scheint es, eher stiefmütterlich von Teilen des Gemeinderates behandelt wurden. Teilst du diesen Eindruck?
Freie Kunstschule ging leer aus
Guntrun Müller-Enßlin: Axel Preuß, Intendant der Schauspielbühnen (Altes Schauspielhaus, Komödie im Marquardt) und Sprecher der Solidargemeinschaft Stuttgarter Theater, eines Zusammenschlusses der Intendanten von 17 Stuttgarter Häusern, hat in einer Mail die Grünen-Chefin Petra Rühle kritisiert. Die Aussage von Rühle, sie habe sich für eine starke Kulturförderung eingesetzt, entspreche nicht der Wahrheit. Es verhalte sich genau andersherum. Dieses Statement kann ich vollumfänglich bestätigen. Das sogenannte Haushaltsbündnis, bestehend aus den Fraktionen der GRÜNEN, SPD und PULS, hat die von den Kultureinrichtungen erbetenen Summen zum Teil willkürlich und in keiner Weise nachvollziehbar gekürzt. So haben die Schauspielbühnen, die bereits in der letzten Haushaltsperiode mit weniger als der beantragten Summe auskommen mussten, auch für 2024/25 ein Drittel weniger bekommen, als sie dringend brauchen würden. Die Freie Kunstschule Stuttgart ging dank des Vetos des Haushaltsbündnisses gar völlig leer aus und steht nun, wenn sich der Gemeinderat nicht rasch eines Besseren besinnt, finanziell vor dem Aus. Auch die Bitten des Kindertheaters in der Badewanne, das einen Baukostenzuschuss für die dringend nötige Renovierung seines Foyers beantragt hatte, wurden nicht erhört.
SÖS: Die Gemeinderatsmehrheit lehnte die Sanierung des ehemaligen Club Penthouse als Proben- und Spielort für die Freie Tanz- und Theaterszene (FTTS) ab. Man habe „Bauchschmerzen“, knapp 18 Millionen Euro in eine neue Spielstätte in Feuerbach zu investieren …?
Vertrauen vollkommen verspielt
Guntrun Müller-Enßlin: Es war der Skandal im Kulturhaushalt schlechthin, dass der Antrag unserer Fraktion, die für die dritte Lesung bereits um die Hälfte abgespeckte Summe zur Ertüchtigung der ehemaligen XXL-Disco Penthouse in der Heilbronner Straße zu bewilligen, von den anderen Gemeinderatsfraktionen abgelehnt wurde. Die Ablehnung entzieht sich jeglicher nachvollziehbaren Begründung. Da hatte man für die mehrfach leer ausgegangene und immer wieder vertröstete Freie Tanz- und Theaterszene endlich ein Etablissement mit den passenden Räumlichkeiten gefunden und die Gemeinderatsmehrheit befand nun den überschaubaren Betrag von 9 Millionen Euro doch wieder für zu hoch, um sein Versprechen endlich in die Tat umzusetzen. Die Beteuerungen, man wisse sich der FTTS gegenüber in der Pflicht und werde alles tun, um endlich Abhilfe zu schaffen, erwiesen sich somit als hohles Wortgeklingel. Mit seiner Ablehnung des von uns gestellten Antrags hat der Gemeinderat nicht nur eine einmalige Chance, sondern auch das Vertrauen der Freien Tanz- und Theaterszene vollkommen verspielt.
SÖS: Für das Konzertforum am Neckar – ein Kulturprojekt, das im November plötzlich und ohne vorherige öffentliche Diskussion wie aus heiterem Himmel fiel – wurden im Doppelhaushalt knapp 480.000 Euro für eine Machbarkeitsstudie beschlossen. Nach Angaben der „Stuttgarter Zeitung“ würde der Bau dieses Forums mit mindestens 55 Mio. Euro im Stadthaushalt zu Buche schlagen. Wie stehst du zu diesem Vorhaben?
Guntrun Müller-Enßlin: Richtig, dieses Projekt kam quasi zur Hintertür herein, als die Haushaltsberatungen bereits in vollem Gang waren. Man kann zwar den Charme des Kulturprojekts verstehen, dessen Kosten im Vergleich zu anderen Kulturbauprojekten moderat erscheinen: Ein Konzertforum in Bad Cannstatt würde die Neckarvorstadt aufwerten und böte eine Interimslösung für die Philharmoniker, die derzeit noch im renovierungsbedürftigen Gustav-Siegle-Haus proben. Andererseits gibt es viele Abers, deren Gewichtigstes die Tatsache ist, dass der Baugrund nicht städtisch, sondern in privater Hand ist – man würde also für ein Haus zahlen, das einem nicht gehört. Auch wurde erst kürzlich die Aufstellung eines B-Plans für das Quartier beschlossen, der auch das Rilling-Areal umfasst.
Bandbreite und Vielfalt erhalten
SÖS: „Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben!“ lautet das Fazit mancher Kulturschaffender, wenn es um ihre ihnen zugedachten Etats geht. Für dich und SÖS ist Kultur „der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält“. Gilt dies auch für die anderen Mitglieder im Gemeinderat? Was wünschst du dir für die Zukunft?
Guntrun Müller-Enßlin: Ich bin mir nicht sicher, dass eine Mehrheit im Gemeinderat begriffen hat, dass Kultur gerade in diesen Zeiten, in der unsere Bevölkerung vielerlei Arten von gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen ausgesetzt ist, nicht nur wichtig, sondern als ihr Rückgrat schlichtweg das A und O einer Gesellschaft ist. Kultur ist mehr als Zeitvertreib und Unterhaltung, sie ist sinn- und wertstiftend, regt Denkprozesse an und trägt zur kritischen Beleuchtung und Aufarbeitung politischer Entwicklungen bei. In totalitären Staaten wird als erstes die Kultur gleichgeschaltet. Gerade in der heutigen Situation, in der in ganz Europa rechtsradikales Gedankengut in besorgniserregender Weise um sich greift, gar salonfähig zu werden scheint, muss alles getan werden, um das kulturelle Leben in seiner Bandbreite und Vielseitigkeit auf Dauer zu erhalten. Dazu braucht es die entsprechenden Fördermittel auf lange Sicht.
SÖS: Herzlichen Dank für das Interview.
Das Interview führte Paul Russmann (SÖS-Newsletter-Redaktion)
Fotos: Guntrun Müller-Enßlin