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Bürgerrat Klima: Unsere Forderungen für Stuttgarts Zukunft ernst nehmen

6. Februar 2024

Interview mit Irene Kamm, eine Initiatorin des Bürgerrates Klima

Irene Kamm, seit Jahren aktiv bei SÖS, ist eine der Initiatorinnen des Bürgerrates Klima. Irene Kamm kandidiert auf der Liste von SÖS für den nächsten Gemeinderat. Mit ihr sprachen wir über die Ergebnisse des Bürgerrates und die Reaktionen darauf im Gemeinderat.

SÖS: Liebe Irene, zunächst einmal Gratulation. Du warst maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des Bürgerrates. Es ist ein Erfolg, dass die Stadt Stuttgart ihn einberufen hat. 61 zufällig ausgewählte BürgerInnen haben 24 Empfehlungen erarbeitet, um Stuttgarts Klimaziele zu erreichen. Wir waren skeptisch, ist es eine Mitmachfalle oder würdet ihr ernst genommen? Wie wurden die Vorschläge aufgenommen?

Irene Kamm: Die Gefahr der Mitmachfalle war uns von Anfang an bewusst. Wir hätten gerne einen sich anschließenden Bürgerentscheid über die Empfehlungen gehabt. Da dies nicht durchzusetzen war, haben wir darauf bestanden, dass der Prozess des Umgangs mit den Empfehlungen im GR-Beschluss festgelegt wird: „Es wird über ein Verfahren sichergestellt, dass die Empfehlungen des Bürgerrats so in die Entscheidungsfindung des Gemeinderats einfließen, dass für jede Empfehlung die Umsetzung oder Nichtumsetzung begründet wird“ (GRDrS 708/2022 Anlage 2). Das ist bislang nicht wirklich geschehen und wir befinden uns – gemeinsam mit einigen der BürgerrätInnen – in intensiver Auseinandersetzung mit der Stadtverwaltung, die hier gewaltig bremst. Inzwischen stellt die Stadtverwaltung sich auf den Standpunkt, das Thema sei abgehakt.

SÖS: Hast du den Eindruck, dass Politik und Verwaltung sich gar nicht ernsthaft mit den Ergebnissen beschäftigen wollten?

Irene Kamm: Ja, das wurde dann im Sommer deutlich, nachdem der BürgerInnenrat seine Empfehlungen beschlossen hatte. Zwei Fraktionen (CDU und FW) zweifelten plötzlich die Neutralität des Prozesses an und diskreditierten einen städtischen Mitarbeiter, weil er bei Fridays for Future aktiv war. Seine Aufgabe war die äußere Organisation des BürgerInnenrats. Sowohl die BürgerrätInnen selbst als auch das Evaluierungsinstitut bescheinigten dem BürgerInnenrat indes einen völlig korrekten Ablauf. Dass die Kritik der beiden Fraktionen nach Veröffentlichung der Empfehlungen aufkam, legt die Vermutung nahe, dass ihnen ein Teil der Empfehlungen nicht gefällt. (1) Ganz zu schweigen von der AfD. Sie leugnet ja den Klimawandel, spricht vom „klimapolitischen Irrsinn“ (Amtsblatt 4/24) und ignoriert den Bürgerrat. Das erwartete ich auch nicht anders.

Mit großem Engagement erarbeitete der Bürgerrat Klima 24 Empfehlungen für ein auch noch 2050 lebenswertes Stuttgart

Parkplatzabbau: Erst Lob – dann wegducken

SÖS: Die Haushaltsberatungen waren ja nun die Stunde der Wahrheit. Wie wurde auf die Forderung nach fünf Prozent weniger Parkplätzen pro Jahr eingegangen? Das wäre ja ein Einstieg in eine autofreie Innenstadt!

Irene Kamm: Die Parkplatz-Empfehlung greift einen Vorschlag des Stadtplaners Jan Gehl auf, der dies für Kopenhagen umgesetzt hat. Für Stuttgart wäre das in der Tat ein Riesenfortschritt. Leider ist es in unserer Stadt eher üblich, dass es jedes Mal einen Aufschrei gibt, wenn 10 oder 20 Parkplätze z.B. für einen Radweg umgewidmet werden sollen. Die Stadtverwaltung hat sich bisher zu diesem Thema meist extrem zögerlich verhalten. In ihrer Stellungnahme zu der entsprechenden Empfehlung Nr. 4 heißt es lapidar:
„… nicht umsetzbar.“

SÖS: Das müsste doch auf den gemeinsamen Widerspruch von Grünen, SPD, Puls und unserer Gemeinderatsfraktion (FrAKTION) gestoßen sein, die sich für eine Mobilitätswende aussprechen und diesen Einstieg begrüßen müssten?

Irene Kamm: Das dachte ich auch. Leider hat dann in den Haushaltsverhandlungen für 2024/25 die Empfehlung Parkplatzreduzierung praktisch überhaupt keine Rolle gespielt. Während im Sommer und Herbst die Ergebnisse des BürgerInnenrats noch sehr große Unterstützung und überschwängliches Lob zumindest durch diese ökosoziale Mehrheit im Gemeinderat bekamen, haben sich die meisten Fraktionen bei den Haushaltsberatungen klammheimlich davon verabschiedet bzw. sich mit Brosamen statt wirklichen Beschlüsse zur Umsetzung begnügt. Inzwischen rücken auch die Grünen offiziell von der Parkplatz-Empfehlung ab. (2) Dabei bietet die Umgestaltung von asphaltiertem Straßenraum ein riesiges Flächenpotential für Radwege, für grüne Schatteninseln und als Spiel- und Begegnungsflächen und für Klimaanpassung allgemein. Abgesehen vom Signal an die PKW-BesitzerInnen, dass diese Fortbewegungsart künftig in Stuttgart nicht mehr oberste Priorität hätte. Die einzige Fraktion, die in den Haushaltsberatungen die Umsetzung der meisten Empfehlungen eingefordert und entsprechend Anträge gestellt hat, war unsere Gemeinderatsfraktion. Mein Dank an Hannes Rockenbauch, der sich trotz der hohen Arbeitsbelastung engagiert für einen ordentlichen und respektvollen Umgang mit den Ergebnissen des Bürgerrats einsetzt.

Gedankenaustausch im Bürgerrat. Er wird nun in Bürgercafes fortgesetzt.

Radwege – warum nicht sofort?

SÖS: Wie will man die Erhitzung des Kessels stoppen, wenn man schon die Hosen voll hat, Parkplätze zurückzubauen? Wurde dann wenigstens ein Durchbruch bei den Radwegen erreicht?

Irene Kamm: Es wird noch sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen. Immerhin wurde der Radetat nun endlich auf 40 € pro EinwohnerIn angehoben, allerdings wird dieser Zielwert erst 2028/29 erreicht werden. Entsprechend auch der Umgang mit Empfehlung 1, die die Umsetzung von 12 Radialverbindungen und dem City-Ring möglichst bis 2026 vorsieht. Die Stadtverwaltung erklärt das schlicht für unmöglich. Es sind bislang keine Bemühungen erkennbar, das Tempo beim Bau von Radwegen zu steigern.

Bitte keine Mogelpackungen!

SÖS: Für die Erreichung der Klimaziele der Stadt bis 2035 ist der klimafreundliche Umbau der Häuser notwendig, vor allem der Umstieg von Heizungen auf erneuerbare Energien. Die Beratung und Umsetzung dafür braucht Personal und Fördergelder. Was wurde zu diesem Vorschlag beschlossen?

Irene Kamm: Nur ein Beispiel zu diesem sehr komplexen und über viele verschiedene Geldtöpfe bzw. Ämter der Verwaltung aufgeteilten Bereich: Gefordert wurden u.a. Koordinationsstellen für die Gebäudesanierung, Beratung in den Quartieren, aufsuchende Beratung und die persönliche Ansprache der EigentümerInnen. Beschlossen wurden lediglich Informationsveranstaltungen in den 23 Stadtbezirken. Keine quartiersbezogenen Angebote. Das ist enttäuschend. Die Erfahrung mit früheren Veranstaltungen auf Stadtbezirksebene lässt nicht allzu viel Wirkung erhoffen. Immerhin soll das EBZ (Energieberatungszentrum) deutlich aufgestockt werden.

SÖS: Du sprichst von Enttäuschung, die GRÜNEN dagegen von einem großen Erfolg, weil 59 Millionen Euro für die Organisierung des Energiespar- und Heizungsprogramms bewilligt wurden.

Irene Kamm: Das soll nach viel Geld klingen, ist aber eine Mogelpackung. Die Verwaltung selbst spricht davon, dass ab 2025 alleine im Bereich Wärme ein Förderprogramm von 300 Millionen pro Jahr – bis 2035 – nötig wäre, um die Klimaneutralität bis dahin zu erreichen. Mir scheint, die Stuttgarter GRÜNEN haben immer weniger Expertise und Mut im Klimaschutz.

Gemeinderat: Aufhören mit dem Lavieren – wir stecken nicht zurück!

SÖS: Das ist keine gute Bilanz, nicht nur für das Erreichen der Klimaziele, sondern auch für die Demokratie. Wie siehst Du das?

Irene Kamm: Die Sorge um die Demokratie war vor vier Jahren unserer zweiter Antrieb, einen BürgerInnenrat anzustreben. Wir sehen überall die Extremisierung der Politik, angetrieben von fanatischen DemagogInnen und PopulistInnen, die über Fake-News unser politisches System zerstören wollen, die Hass verbreiten und Intoleranz predigen. Das Vertrauen der Menschen in die politischen Gremien nimmt immer weiter ab, gleichzeitig aber auch das Interesse, selbst aktiv zu werden und sich über die eigene „Bubble“ hinaus zu informieren.

Hier setzt das Konzept Bürgerrat an: Durch die Zusammensetzung – aus allen Lebensmilieus ausgelost – kommen die Teilnehmenden zwangsläufig in den Austausch und haben die Chance, das Denken der Anderen zu verstehen. Versehen mit den notwendigen Fachinformationen sind sie angehalten, in Gruppen gemeinwohlorientiert nach Lösungen zu suchen. Für sie geht es um nichts weiter als Lösungswege für das vorgegebene Problem. Anders als unsere politischen VertreterInnen müssen sie keine Rücksicht auf Parteimeinungen nehmen, um keine Wiederwahl fürchten. Und die Repräsentativität eines BürgerInnenrats verleiht ihm eine hohe Legitimität.

Damit es auch 2050 im Kessel noch heißen kann „Welcome to Stuttgart City“ muss der Gemeinderat die Forderungen des Bürgerrates umsetzen. Im Bild: Graffitti in der Steinstraße.

Wir bleiben dran: Stuttgart klimaneutral bis 2035!

SÖS: Wenn nun die Mitglieder des Bürgerrats dieses Unterlaufen ihrer Forderungen erleben, besteht da nicht gerade die Gefahr der Politikverdrossenheit, über die die Parteien gerade so jammern?

Irene Kamm: Dieses Vertrauen sollten die politischen Gremien nicht verspielen, indem sie die Empfehlungen eines BürgerInnenrats in der Schublade verschwinden lassen. Die mögliche Enttäuschung über den wenig wertschätzenden Umgang der politischen Kaste damit könnte zur Abkehr weiterer Bevölkerungsgruppen vom demokratischen Denken und Handeln führen.

Wenn die Empfehlungen des Bürgerrats ernst genommen und umgesetzt würden, wären wir zumindest dem Ziel „Stuttgart 2035 klimaneutral“ ein Stück näher.(3) Auch wenn das für die Pariser – Klimaziele, die angestrebte 1,5°-Begrenzung, eher zu wenig ist. Mit dem jetzt beschlossenen Doppelhaushalt und den Kürzungen beim Klimaschutz auf Bundesebene wird aus dem Ziel eine kaum zu verwirklichende Utopie. Damit können wir uns nicht abfinden. Stuttgart muss auch 2050 noch bewohnbar sein. Es kommt jetzt noch stärker auf die Bürgerschaft an, dass die sich einmischt, zu Wort meldet, aktiv engagiert.

SÖS: Jetzt organisiert ihr Bürgercafés. Was sind dabei die Ziele?

Irene Kamm: Die Bürgercafés verfolgen mehrere Ziele. Zum einen wollen wir die Stadtbevölkerung über die Ergebnisse des Bürgerrats informieren. Je mehr Menschen Bescheid wissen, desto mehr werden das Thema weiter verfolgen und beobachten, was daraus wird. Außerdem versuchen wir, die EinwohnerInnen der Bezirke für die Umsetzung von Klimaschutz in ihrem Quartier zu begeistern, ihre Ideen aufzugreifen, Unterstützungs- und Vernetzungsmöglichkeiten anzubieten. Nebenbei kann dabei auch mehr soziales Miteinander enstehen, wenn NachbarInnen gemeinsam Balkon-PV bestellen und sich bei der Installation helfen, wenn sie die Straßenränder begrünen u.v.m. Leider sind bislang nur 4 Bürgercafés à zwei Sitzungen finanziert.(4) Wenn es weiter so viel Zuspruch gibt wie bei den ersten beiden Terminen, möchten wir ab Herbst das Format in weiteren Bezirken anbieten. Das schaffen wir aber nur mit Unterstützung. Ich denke da vor allem an die Bezirksbeiräte. Zu guter letzt wollen wir Werbung für das Format Bürgerinnenräte machen und dessen bislang nur unzureichend ausgeschöpfte Möglichkeiten als ein Instrument direkter Demokratie. Denn dieser Bürgerrat soll in Stuttgart kein einmaliges Experiment bleiben, sondern als Blaupause weiterentwickelt und etabliert werden.

SÖS: Liebe Irene, danke für dieses Interview. Bleibt dran!

Das Interview führte Peter Hensinger, SÖS-Newsletter-Redaktion

Termine der nächsten Bürgercafes:
Weilimdorf, Altes Rathaus, 3. Februar, 14 bis 16.30 Uhr (ausgebucht)
Wangen, Kelter, Donnerstag 7. März, 18 bis 20:30 Uhr

Über die Initiative Bürger*innenRatKlimaStuttgart (BratKlimaS):
www.buergerinnenratklimastuttgart.de
https://www.instagram.com/buergerinnenratklimastuttgart/

Quellen:
(1) https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.vorwuerfe-von-stuttgarter-cdu-und-freien-waehlern-war-der-buergerrat-klima-tendenzioes.ac343691-673c-42db-bf55-5487434656b1.html
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.buergerrat-klima-in-stuttgart-mitglieder-schockiert-ueber-vorwuerfe.12ef2565-066f-4f78-9c1c-3d35cd237415.html
(2) 5% weniger Parkplätze pro Jahr: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.buergerrat-klima-in-stuttgart-drei-superblocks-weniger-parkplaetze-das-passiert-mit-den-forderungen.9f4526bc-ea0f-4e34-838c-aad7f580609b.html (leider nicht barrierefrei), oder bei Kontext: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/667/ruhe-im-verkehr-9309.html
(3) Die Empfehlungen können hier nachgelesen werden:
https://www.stuttgart.de/buergerinnen-und-buerger/buergerrat-klima/ergebnisse/
(4) Infos über die Bürgercafés (Kooperation mit Stabsstelle Klimaschutz und Fraunhofer IRB)
https://www.stuttgart.de/anmeldung-buergercafes-klima

Bilder:
Irene Kamm: Privat
Gruppenbild: Parsyak LHS
Gedankenaustausch: Kraufmann LHS
Grafitti: SÖS


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