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Kappung der Gäubahn

4. März 2024

Was Goethe, Kaiser Wilhelm und ein Schweizer Bahnchef mit Stuttgart 21 zu tun haben

Die geplante Kappung der Gäubahn zeigt die fatale Situation, in die Stuttgart 21 nicht nur Stuttgart, sondern die ganze Region bringt. Das Versprechen, S 21 mache Stuttgart zum Herz Europas, wird zum Gegenteil: Zur Arterienverstopfung. Stuttgart wird von der Südschiene in die Schweiz und nach Italien abgehängt, die Einpendler nach Stuttgart werden ein Chaos erleben. Das Erstaunliche: Außer unseren SÖS-Stadträt*innen und ihren Kolleg*innen in unserer FrAKTION schweigen die anderen Gemeinderatsfraktionen dazu. Wir baten das Aktionsbündnis, uns die Folgen der Kappung darzulegen. Hier der Bericht.

Brechend voll war der größte Stuttgarter Rathaussaal mit seinen 520 Plätzen, als Die FrAKTION und das Gäubahnkomitee Stuttgart am 19. Februar 2024 faktenreich über die Bedeutung der Gäubahn informierten und die Sonntagsreden der Verantwortlichen entlarvten. Mit dem Projekt S 21 droht im nächsten Jahr die Kappung der Gäubahn. Ohne jegliche technische Notwendigkeit soll die wichtige transnationale Bahnstrecke Norditalien – Schweiz – Stuttgart im Stuttgarter S-Bahnhof Vaihingen enden. Reisende sollen von dort mit den heute schon extrem anfälligen und überfüllten S-Bahnen oder mit den Stadtbahnen ins Stadtzentrum gelangen und von dem im Bau befindlichen Tiefbahnhof aus ihre Weiterfahrt antreten. 

Stadt opfert Gäubahn für klimaschädliches Bauen

Eine Weiterführung der Gäubahn zum Tiefbahnhof ist zwar über den Flughafen und den überlasteten Fildertunnel vorgesehen. Doch der eigens dafür erfundene Pfaffensteigtunnel – längster Eisenbahntunnel Deutschlands – ist noch längst nicht genehmigt, wird hohe Treibhausgasemissionen verursachen, über 2 Milliarden Euro kosten und zehn oder noch mehr Jahre Bauzeit erfordern.

Nötig wäre das alles nicht, denn der betreffende Abschnitt der Gäubahn von Vaihingen zum Hauptbahnhof, bekannt als Panoramastrecke, könnte – worauf sich übrigens die Beteiligten bei der sogenannten Schlichtung unter Heiner Geißler 2010 geeinigt hatten – problemlos erhalten werden. Das wäre weder technisch schwierig noch besonders teuer. Wie die Bahn selbst bei einer internen Untersuchung („Zusammenfassung Weiterbetrieb“) festgestellt hat, wären das für den zweigleisigen Weiterbetrieb gerade mal 2,5 bis 2,8 Millionen, für den eingleisigen Weiterbetrieb nur 1,5 Millionen Euro. Nicht gerade viel angesichts der aktuellen Kostenprognose von über 11 Milliarden bei Stuttgart 21. Allerdings hätte das zur Folge, dass die oberirdisch verlaufenden Gleise weiter zum jetzigen Kopfbahnhof führen würden.

Eigentlich kein Problem, wären da nicht die Planungen der Stadt Stuttgart. Die will alle oberirdischen Gleise des Kopfbahnhofs lieber heute als morgen herausreißen und das Gleisvorfeld mit dem neuen Stadtviertel Rosensteinquartier bebauen (unbeschadet der negativen Folgen für das Stadtklima und den Artenschutz durch Versiegelung, Blockade des Luftaustausches, Aufheizung des Talkessels). Deshalb hat die Landeshauptstadt keinerlei Interesse am Erhalt der Gäubahn, man könnte auch sagen an einem funktionierenden Bahnverkehr, der Stuttgart mit der weiten Welt verbindet.

Bedarfshalt Wildpark auf der Panoramastrecke

Zum Hauptbahnhof UND zum Bodensee

Inzwischen sind betroffene Menschen entlang der Gäubahnstrecke, insbesondere Pendlerinnen und Pendler, aber auch die Lokalpolitik, aufgewacht. Immer mehr Initiativen fordern: „Wir wollen zum Hauptbahnhof.“ Die sehr engagierte Rottweiler Gruppe hat sogar anlässlich der Gemeinderatssitzung zur Klimapolitik eine beeindruckende Demo vor und im Stuttgarter Rathaus organisiert. Den Mitgliedern des Gemeinderats und der Verwaltungsspitze unter OB Nopper sollten die Ohren geklungen haben.

Mit dem Motto „Wir wollen zum Bodensee“ meldet sich nun auch Stuttgart zu Wort. Einige Verkehrsverbände und das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 haben das Gäubahnkomitee Stuttgart gegründet und sich mit der Veranstaltung „Die Gäubahn im transeuropäischen Eisenbahnnetz erhalten“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Komitee hat große Pläne: So sollen Sonderfahrten mit historischen Zügen die malerische Strecke aufwerten und ihre Möglichkeiten aufzeigen. Im Mittelpunkt des Abends im Rathaus stand, dass die geplante Kappung der Gäubahn technisch nicht notwendig ist, den Bahnverkehr massiv verschlechtert, negative Folgen für das Klima hat und für viele Jahre mit wirtschaftlichen Nachteilen für Stuttgart und dem südwestlichen Landesteil verbunden ist.  

Schweizer Ex-Bahnchef kritisiert S 21 als „Megalomanie“ 

Benedikt Weibel, langjähriger Schweizer Bahnchef, zeigte den Zusammenhang der Gäubahnkappung mit Stuttgart 21 auf. Das Projekt kritisierte er als Megalomanie, was Größenwahn und Selbstüberschätzung bedeute. Während man zu Kaisers Zeiten von Mailand über Zürich und Stuttgart über die Gäubahnstrecke bis nach Berlin gereist sei, drohe wegen falscher Planung von Stuttgart 21 nun das Aus für die auch für die Wirtschaft wichtige europäische Verbindung. Diese Folgen erinnerten ihn an das Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“

Wörtlich führte Weibel aus: „Man begründet eine irrwitzig hohe Investition mit bahnbetrieblichen Notwendigkeiten bis hin zu den Verkehrsströmen Paris – Bratislava. Jetzt, Jahre später, will man eine über 100jährige Zufahrtslinie kappen und ein großes Einzugsgebiet bahnmäßig ins Abseits stellen: das obere Neckartal, das obere Donautal, den westlichen Bodenseeraum und die Region Zürich/Schaffhausen. Obwohl es eine Lösung gibt, die solches vermeiden würde. Welche aber nicht realisiert werden könne, weil die Stadt städtebauliche Anliegen hat, die offenbar dringlicher sind als ein guter Bahnanschluss einer ganzen, großen Region. Die DB ist mit Stuttgart 21 in eine riesengroße Komplexitätsfalle getappt. Mit der an sich löblichen Absicht, den neuen Bahnhof zu einem „digitalen Knoten“ zu machen, hat man den Komplexitätsgrad nochmals potenziert – mit entsprechenden Kosten-, Qualitäts- und Terminrisiken – und die sind sehr hoch. Es ist unfassbar, dass die DB dieses Spiel mitmacht. Damit deklariert sie, dass sie eine anständige Bahnverbindung in den Süden nicht für notwendig hält.“

Benedikt Weibel im Gespräch mit Jürgen Resch

Wir lassen uns das nicht gefallen!

Weibel schloss mit den Worten: „Lasst Euch das nicht gefallen! Es kann nicht sein, dass eine Stadt in einer Zeit, in der eine Verkehrswende angesagt ist, lokalen städtebaulichen Anliegen mehr Gewicht gibt als einer ordentlichen Bahnverbindung eines großen Einzugsgebiets.“

Gefallen lassen wir uns das nicht, wie auch im Grußwort von Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe e.V., deutlich wurde. Die DUH hat mit der Argumentation, die Kappung werde viele Menschen in ihre Autos zwingen und dadurch dem Klima schaden, Klage erhoben. Auch Harald Kirchner, Redakteur des SWR, unterstrich die Bedeutung der Gäubahn und belegte dies mit Ausschnitten aus einem Fernsehfilm des Senders.

Hans-Jörg Jäkel, Vorsitzender des Komitees, brachte es mit der Aussage auf den Punkt: „Der für die S-Bahn-Anbindung zur Station Mittnachtstraße 2025 geplante Rückbau von Gleisen der Gäubahn und das Abbaggern des Damms am Gäubahnviadukt zerstört völlig ohne bauliche Notwendigkeit für viele Jahre

eine wichtige Strecke des transeuropäischen Eisenbahnnetzes (TEN) mit gravierenden Nachteilen für die Fahrgäste.“ Er belegte dies mit Unterlagen des Eisenbahn-Bundesamtes und der Deutschen Bahn AG. Denn im Planfeststellungsbeschluss von 2006 findet sich folgende Aussage: „Um die S-Bahn-Anbindung Stuttgart Nord bauen zu können, muss die Gäubahnstrecke stillgelegt und der Bahndamm der Gäubahn im Bereich des S-Bahn-Baufelds zum Teil abgetragen werden. Dies ist nötig, um während der Bauzeit provisorische S-Bahngleise zur Aufrechterhaltung des S-Bahn-Verkehrs einrichten zu können.“ Die damalige Planung als Provisorium wurde niedergelegt in der Skizze „Planung Provisorium 2015“.

Die Gäubahnstrecke muss nicht stillgelegt werden

Die Bahn hat sich jedoch schon vor 5 Jahren von der vorübergehenden provisorischen Streckenführung verabschiedet. Vielmehr wird längst an der endgültigen Streckenführung der S-Bahn (von der künftigen Station Mittnachtstraße kommend zum Nordbahnhof) gearbeitet. Der Anschluss der neuen Gleise an die alte Strecke im Bereich der Kreuzung mit dem höherliegenden Damm der Gäubahn kann ohne großen Aufwand mittels einer Verschwenkung der S-Bahn-Gleise, abgesichert mit einer Stützwand am Gäubahndamm, in wenigen Tagen bewerkstelligt werden. Die beiden S-Bahn-Gleise können auch künftig wie bisher durch 2 der 4 Portale des Gäubahnviadukts die Gleise der Gäubahn kreuzungsfrei unterqueren. Offensichtlich wird diese (geänderte) Bauausführung ohne die ursprünglich geplante provisorische S-Bahn-Führung nur deswegen vertuscht, um eine unnötige Gäubahnkappung für notwendig zu erklären. Denn die Gäubahn soll nicht für die S-Bahn geopfert werden, sondern für die klimaschädliche Bebauung des Gleisvorfeldes mit dem Rosensteinquartier.

Jäkel verwies auf gleichartige Bauausführungen mit Gleisverschwenkungen beim Bahnhof Feuerbach und an der Staatsgalerie (Abzweigung zum Hauptbahnhof). Sein Fazit: Für die S-Bahn-Anbindung Stuttgart Nord werden während der Bauzeit keine provisorischen S-Bahngleise eingerichtet. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, wegen einer provisorischen Streckenführung den Bahndamm der Gäubahn teilweise abzutragen. Unter großem Beifall schloss er: „Die Gäubahnstrecke muss nicht stillgelegt werden.“

Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart

Bilder: Postkarte Privatarchiv, Gäubahn Klaus Gebhard / Aktionsbündnis, Aktionsbündnis


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