Interview mit Paul Russmann
Erschreckend! Wieder wird diskutiert, ob Deutschland Krieg führen soll. Nach dem II. Weltkrieg hatte der Pazifismus großes Ansehen. „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt“, hatte Franz Josef Strauß 1949 gesagt, „dem soll die Hand abfallen.“ Doch die Schrecken des II. Weltkrieges waren bald vergessen. Der kalte Krieg führte zur Wiederaufrüstung. Paul Russmann blieb Pazifist, 30 Jahre lang als Geschäftsführer von „Ohne Rüstung Leben“. Heute hat Aufrüstung Hochkonjunktur. Wie denkt er über die Gegenwart?
Paul Russmann im Gespräch
SÖS: Lieber Paul, mehr als 30 Jahre warst du hauptamtlicher Mitarbeiter der ökumenischen Aktion Ohne Rüstung Leben in Stuttgart. Wie geht es dir mit der gegenwärtigen Diskussion um die Aufrüstung?
Paul Russmann: Mir ist angst und bange angesichts der milliardenschweren Aufrüstungspakete, der Waffenexporte und der damit verbundenen zunehmenden Kriegsrhetorik, die mir manches Mal den Schlaf raubt. So hält CDU-Chef Friedrich Merz Freiheit für wichtiger als Frieden: „Erst wenn Freiheit besteht, erst dann kann es Frieden geben“ sagte Merz in Stuttgart und bezieht dies auch auf die Außenpolitik. Jeder fünfte Euro(!) des Bundeshaushaltes geht allein in diesem Jahr in die Rüstung. Die Ausgaben für Militär und Krieg sind höher als die für Bildung, Gesundheit, Wohnen, Umwelt und Klima. Verantwortungslos wird ein Sieg über die weltgrößte Atommacht immer wieder ins Spiel gebracht: So zeigte sich die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit einem Taurusbullen auf ihrem T-Shirt mit der Aufschrift „Taurus für die Ukraine – Zusammen bis zum Sieg“.
Völkerrechtswidrige Gedankenspiele
SÖS: Die Grenzen des Denk- und Sagbaren verschieben sich. Deutsche Politiker fordern Atomwaffen. In Stuttgart sitzen Kommandozentralen des US-Militärs.
Paul Russmann: Obwohl Europa – und damit auch Stuttgart – zu den Weltregionen gehört, in denen die Gefahr eines Atomkrieges am größten ist, fordert Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne) für die EU eine eigene atomare Aufrüstung. „Einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert“ will der Politologe Herfried Münkler. Es ist alarmierend, dass diese völkerrechtswidrigen Gedankenspiele ergrauter Kalter Krieger ernsthaft in Berlin erwogen werden. Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), den auch Deutschland unterzeichnet hat, verbietet jede nukleare Neubewaffnung. Es gibt keine „guten“ Atomwaffen. Zahlreiche Hollywood-Schauspieler*innen haben das in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich der Oscar-Verleihung an „Oppenheimer“ gut auf den Punkt gebracht: „In einer Zeit großer Ungewissheit ist jede einzelne Atomwaffe – ob zu Lande, zu Wasser, in der Luft oder im Weltraum – eine zu viel. Um unsere Familien, unsere Gemeinschaften und unsere Erde zu schützen, müssen wir von den führenden Politikern der Welt verlangen, sich dafür einzusetzen, dass Atomwaffen der Vergangenheit angehören – und eine bessere Zukunft aufbauen.“
Pazifismus – aus der Zeit gefallen?
SÖS: Wenn ein Land, wie die Ukraine, angegriffen wird, ist es ohne Waffen wehrlos! Ist der Pazifismus nicht naiv?
Paul Russmann: Die Gleichung „Ohne Waffen gleich wehrlos“ widerspricht zahlreichen historischen Beispielen. Bei militärischen Angriffen können neben oder statt Waffen militärfreie, pazifistische Formen der Nichtzusammenarbeit mit dem Besatzer, „Ziviler Ungehorsam“ oder Elemente der „Sozialen Verteidigung“ angewendet werden. Ja, Pazifismus ist insofern naiv, als von ihm keine Gefahr für Leib und Leben des Aggressors ausgeht.
Pazifist*innen, übersetzt Friedensstifter*innen, stehen in der Regel für eine ethische Grundhaltung, die danach strebt, bewaffnete Konflikte zu vermeiden. Dafür wollen sie die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für dauerhaften Frieden schaffen. Auch Grundhaltungen wie der Pazifismus sind keine Schönwetterveranstaltungen und tragen (wie alle -ismen) in sich die Möglichkeiten zu scheitern.
Mir scheinen die Bellizisten, die Pazifist*innen Naivität vorwerfen, allerdings selbst naiv zu sein: Ihre Kriegsrhetorik und Aufrüstungsdynamik kommt zwar auf den ersten Blick logisch daher, zeigt aber mangelndes Reflexionsvermögen, was die Folgen für uns alle angeht. Wenn Pazifist*innen erfolgreich sind, ist das Ergebnis ein Zusammenleben in Frieden. Wenn militärische Gewalt erfolgreich ist, ist das Ergebnis trotz allem Leid und Zerstörung. Statt sich jedoch argumentativ mit dieser pazifistischen Perspektive auseinanderzusetzen, werden Pazifist*innen oft diskreditiert oder aus öffentlichen Diskursen an den Rand gedrängt.
Denkmal für Deserteure vor dem Theaterhaus in Stuttgart
SÖS: „Wer steht stirbt“, sagt der Inspekteur des Heeres Alfons Mais in der Stuttgarter Zeitung (29.2.24). Er bewundert die flexible Kriegsführung der israelischen Armee in Gaza mit der Botschaft, dass wir mehr und besser trainierte Soldaten für einen realen Ernstfall brauchen!
Paul Russmann: Der Überfall der Hamas, Entführung, Vergewaltigung und Ermordung von über tausend Menschen, der brutale Ausbruch der Gewalt gegen wehrlose Kinder, Frauen und Männer sind Verbrechen, für die es keine Rechtfertigung geben kann. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden! Gegen einen bewaffneten Angriff hat jeder Mitgliedsstaat der UNO ein Selbstverteidigungsrecht. Doch die Blockade und die massiven Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch das israelische Militär töten auch tausende unschuldiger Menschen, und verstoßen gegen das Völkerrecht. Wer diese „flexible Kriegsführung“ bewundert, bewegt sich m. E. nach weder auf dem Boden des Grundgesetzes noch auf dem Boden des Völkerrechts.
„Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, …“
SÖS: „Der Russe bedroht uns“ – damit wurde 1914 und 1940 die Notwendigkeit eines Krieges begründet, jetzt heißt es das wieder. 1914 und 1940 waren es Propagandalügen, aber ist das heute nicht die Wahrheit?
Paul Russmann: In den drei Situationen handelt es sich um schwer miteinander zu vergleichende Akteure. Weder das zaristische Russland von 1914, die Sowjetunion von 1940 und das von Putin regierte Russland 2022, noch das Kaiserreich, der Faschismus Hitlers und die aktuelle Bundesregierung. Aber in allen Kriegen gilt: Mit Feindbildern radikalisieren Kriegsparteien die Propaganda, die Sinngebung und Legitimation des Krieges.
So hieß es im ersten Weltkrieg: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klapps ein Japs.“ – „Juden“ und „Bolschewisten“ waren im Angriffskrieg gegen die Sowjetunion Feindbilder des rassenideologischen Eroberungs- und Vernichtungskriegs Adolf Hitlers.
Das Völkerrecht achten!
Paul Russmann: Heute hingegen hat das von Putin regierte Russland die Ukraine angegriffen. Auch die Ausdehnung der NATO nach Osten, Verstöße gegen das Minsker Abkommen und gebrochene Versprechen seitens westlicher Staaten gegenüber Russland können den völkerrechtswidrigen Angriff Putins auf die Ukraine nicht rechtfertigen. Bei allem Verständnis für historische Abläufe: Wer militärische Interventionen in die Enge getriebener Regierungen in Nachbarstaaten als legitim akzeptiert, öffnet willkürlichem, blutigem Handeln Tür und Tor. Die politische Führung in Moskau kann und muss den Krieg sofort beenden, das Völkerrecht achten und alle Truppen aus der Ukraine abziehen!
SÖS: Im Nachhinein betrachtet waren alle Kriege, die Deutschland führte, der 70/71er Krieg gegen Frankreich, die Kolonialkriege, der erste und der zweite Weltkrieg, Wirtschaftskriege.
Es ging immer um den Zugang zu Ressourcen, die Ausschaltung wirtschaftlicher Konkurrenten und die Eroberung von Einflussgebieten und Absatzmärkten. Beeindruckend stellt das der britische Militärhistoriker Richard Overy in seinem neuen 1500-seitigen Standardwerk „Weltenbrand“ über den zweiten Weltkrieg dar. Geht es heute statt um Profit um westliche Werte, was immer die auch sind?
Paul Russmann: Es ging bzw. geht in allen Kriegen immer auch um Einflusssphären, den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen, die Ausschaltung wirtschaftlicher und politischer Konkurrenten, den Anspruch Großmacht oder Kolonialmacht zu sein. So definieren die verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesregierungen seit Anfang der 90er Jahre die Aufgabe der Bundeswehr als „die Verteidigung des ungehinderten Zugangs zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt“. Oft geht es aber auch um Eitelkeiten, Größenwahn, vorausgegangene Kränkungen oder Ablenkungsmanöver der handelnden, meist männlichen Akteure.
Banner in Stuttgart-West zu Beginn des Ukraine-Krieges
Friedensfähig werden!
SÖS: Deutschland soll kriegstüchtig werden? Die Folgen und Schrecken eines Krieges werden ausgeblendet. Stuttgart war vor 80 Jahren zerstört, viele unserer Opas und Onkels gefallen. Wenn ich deutsche Politiker derzeit höre, fällt mir Remarque ein: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“
Paul Russmann: Verschiedene Wörter wie „abschreckend“, „kriegstüchtig“ und „wehrhaft“ militarisieren immer mehr das Vokabular diverser Verteidigungspolitiker: innen. Statt von Aufrüstung wird von Ausrüstung gesprochen. Dieses Vokabular prägt auch die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2023. Für die Bundesregierung ist die Russische Föderation seit dem Ukrainekrieg „ohne einen fundamentalen inneren Wandel dauerhaft die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum. … Ein Leben in Frieden und Freiheit ist in der Mitte Europas keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Bundeswehr ist ein Kerninstrument unserer Wehrhaftigkeit gegen militärische Bedrohungen. Hierzu muss sie in allen Bereichen kriegstüchtig sein.“ (Verteidigungspolitische Richtlinien 2023)
SÖS: Gibt es überhaupt einen gerechten Krieg?
Paul Russmann: Die Lehre vom „gerechten Krieg“ diente der Kriegsbegrenzung. Doch angesichts einer Zeit, in der die Selbstvernichtung unserer Zivilisation durch Atomwaffen, Kriege und Klimakatastrophe droht, darf „Krieg … kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ (Willy Brandt)
Statt kriegstüchtig müssen wir friedensfähig werden. So heißt es im Aufruf des DGB zu den diesjährigen Ostermärschen: „Angesichts der Zunahme bewaffneter Konflikte ist es höchste Zeit, den Irrglauben zu überwinden, Frieden ließe sich durch Aufrüstung und immer mehr Waffen schaffen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie das Friedensgebot des Grundgesetzes konsequent umsetzt. Wir fordern sie auf, sich mit aller Entschlossenheit für diplomatische Ansätze zur Konfliktlösung einzusetzen und neue Initiativen für die Wieder-belebung von Abrüstung, Rüstungs- und Rüstungsexportkontrolle auf den Weg zu bringen.“
SÖS: Lieber Paul, danke für das Interview und Dein unermüdliches Engagement für den Frieden.
Paul Russmann, Jahrgang 1955. Bankkaufmann und Diplomtheologe. Referent für Friedensarbeit i. R. der ökumenischen Aktion Ohne Rüstung Leben e. V., Sprecher der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ 2011 bis 2017. Langjähriges Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen. Mitinitiator des Stuttgarter Fachkreises für Konfliktbewältigung und Mediation (FAKTUM).
Das Interview mit Paul Russmann, der für SÖS u. a. im Bezirksbeirat Stuttgart-West aktiv ist, führte für die Newsletter-Redaktion Peter Hensinger.
Wer Frieden will, bereite den Frieden vor! Am Osterwochenende 2024 finden in Stuttgart und in zahlreichen deutschen Städten wieder die Ostermärsche für Frieden und Abrüstung statt. Zudem macht der Internationale Bodensee Friedensweg Station in Friedrichshafen:
Bilder: SÖS, Privat