Das Erreichen der Klimaziele ist in Stuttgart gefährdet. Die Beratungsfirma Drees & Sommer stellte im Gemeinderat ein Gutachten zu den Ursachen vor. Die StZ titelte darauf: „Grabenkämpfe und ineffektive Abläufe gefährden das Klimaziel“. Es herrscht offensichtlich eine Arbeits-Klima-Krise in der Stadtspitze. Dazu befragten wir den SÖS-Stadtrat und Fraktionsvorsitzenden von Linke und SÖS, Hannes Rockenbauch.
SÖS: Die Klimaneutralität bis 2035 hat für Stuttgart existenzielle Bedeutung. Es droht die Unbewohnbarkeit, wenn keine Maßnahmen eingeleitet werden, um den Kessel vor weiterer Erhitzung zu schützen. Nun deckte die Stuttgarter Zeitung auf: Da ist mächtig Sand im Getriebe an der Verwaltungsspitze! Das attestiert ein Gutachten von Drees & Sommer. Die StZ titelt: „Grabenkämpfe und ineffektive Abläufe gefährden das Klimaziel“ (10.10.2024). Sie schreibt zu den Ursachen: „Konkurrenzkämpfe, persönliche Konflikte, Führungsschwäche und unklare Aufgabenverteilung innerhalb der Stadtverwaltung.“ Also eine Arbeits-Klimakrise an der Stadtspitze! Du bist Mitglied im Ältestenrat, kennst die internen Vorgänge. Stimmt das?
HANNES ROCKENBAUCH: Ja, die Stuttgarter Zeitung beschreibt hier einen Teil der Ursachen, warum wir trotz ehrgeiziger Beschlüsse des Gemeinderats nicht schnell genug vorankommen. Zur Klarstellung: In Stuttgart passiert in letzter Zeit tatsächlich einiges im Vergleich zu anderen Städten. Unser Maßstab muss aber immer sein, was wäre nötig, um das Klimaziel 2035 tatsächlich zu erreichen und dafür tun wir deutlich zu wenig. Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass die Dimension der Klimakatastrophe nicht nur im Rat und in der Verwaltung, sondern auch in der Bevölkerung völlig unterschätzt wird. Mit unserem Antrag auf Klimanotstand sind wir jetzt zum siebten Mal gescheitert. München hat seit 2019 den Klimanotstand ausgerufen und dann seit 2021 seine Verwaltung konsequent umgebaut, um diesem Notstand auch Herr zu werden. In Stuttgart lässt OB Nopper zu, dass in Sachen Klima einfach weitergewurstelt wird.
Seit 20 Jahren macht Stadtrat Hannes Rockenbauch Vorschläge für den klimagerechten Umbau von Stuttgart.
OB Nopper auf der Flucht
SÖS: Nopper verließ sogar den Saal, als Drees & Sommer ihr Gutachten vorstellte! Ist das nicht die Botschaft: „Ich will nichts davon wissen!“ ?
HANNES ROCKENBAUCH: Ja. Der Oberbürgermeister war zum Tagesordnungspunkt davor extra in den Ausschuss gekommen, ist dann aber schnell wieder entschwunden. In diesem Tagesordnungspunkt ging es nicht um die Bewältigung der „größten Herausforderung der Menschheitsgeschichte“, sondern er wollte seinen absurden 11 Punkte Plan für mehr Sicherheit in Stuttgart verteidigen. Diese Prioritätensetzung offenbart, was für Nopper wirklich Chefsache ist. Wenn es darum geht, beim Thema Sicherheit und Migration mit seinen spalterischen Ideen und Maßnahmen am äußersten rechten Rand zu fischen, dann ist er dabei. Wenn es darum geht, dass er und seine Verwaltung bei der Umsetzung beschlossener Klimaziele versagen, flüchtet er. Besser konnte er seine Haltung nicht demonstrieren.
SÖS: Aber unser Oberbürgermeister liegt damit doch gerade voll im Mainstream. Parteien und Medien stilisieren schließlich auch die Migration zum existenzgefährdendsten Thema hoch und verdrängen die Klimadiskussion.
HANNES ROCKENBAUCH: Richtig, abgelenkt wird mit der Migrantenhetze doch von den Verursachern unserer Probleme. Warum flüchten Menschen zu uns? Seit 500 Jahren hat Europa viele Länder des globalen Südens ausgeplündert und verarmen lassen, indigene Ureinwohner ausgerottet. Wir beuten heute noch ihre Rohstoffe aus. Wenn in rohstoffreichen Ländern Krieg und Terror herrscht profitieren die Techkonzerne davon, so kommen sie billig und ohne für Umwelt- und Arbeitschutz bezahlen zu müssen an wertvolle Mineralien. Dafür soll jetzt sogar das Lieferkettengesetz wieder abgeschafft werden. Die Kriege sind oft Kriege um Ressourcen für unsere Industrie, und sie zwingen Menschen in die Flucht. Es ist derzeit eine Abwärtsspirale: Die Untätigkeit von Politikern gegen den Klimawandel fördert die Erderwärmung, in der Folge steigen die Umweltkatastrophen und es werden noch mehr Menschen gezwungen werden, ihre Länder zu verlassen. Hier liegen die Fluchtursachen. Sie werden durch die Politik der hochindustrialisierten Länder ständig produziert und verstärkt. Und die Opfer der Politik der Industrienationen werden jetzt, wenn sie bei uns Schutz suchen, von den Rechten zu Tätern gemacht. Insbesondere die AfD operiert mit dieser Demagogie und lenkt von Ursachen ab. Wir müssen über diese Zusammenhänge aufklären und uns dieser rechten Hetze entgegenstellen. Das sind wir den heutigen Opfern unserer Lebensweise und den zukünftigen Generationen schuldig.
SÖS: Woran liegt das Versagen nun wirklich? Körner (SPD) ist der Chefstratege im Rathaus, Umweltbürgermeister ist Pätzold (GRÜNE), und der Chef ist Nopper (CDU). Sind es nur Antipathien oder eint dieses Trio eine gleiche Ideologie, nämlich die des Wachstums und die Anbetung der Autoindustrie?
HANNES ROCKENBAUCH: Ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, ob und zu welchem Anteil Antipathie, Ideologie oder einfach nur Machtkonflikte in historisch gewachsenen Strukturen zur heutigen Situation beigetragen haben. So viel kann ich aber sagen: Auch wenn ich ein entschiedener Gegner von Konzepten bin, die mit grünem Wachstum die Welt retten wollen, wäre ich schon froh, wenn in Stuttgart wenigstens der kapitalismuskompatible Teil, die Energiewende, vorankäme. Der Ausbau von Photovoltaik ist zu langsam und bei der erneuerbaren Wärme und dem Ausbau nötiger Verteilnetze kommen wir quasi gar nicht voran. Selbst diesen „harmlosen“ Teil bekommen wir, Stand heute, nicht hin.
Der BürgerInnenrat Klima erarbeitete ein Programm zum Klimaschutz. Umgesetzt wird fast nichts davon. Das muss sich ändern!
Die Umweltverbände müssen sich einmischen
SÖS: Aber warum geht es bei der Stadt beim Klimaschutz nicht wirklich voran?
HANNES ROCKENBAUCH: Hier kommt einiges zusammen. Es ist nicht nur der unendliche Wachstumshunger im Kapitalismus, der droht, unsere Welt zu verschlingen, sondern auch seine ihn rechtfertigende Ideologie. Es ist der verhängnisvolle Irrglaube, erst müsse es der Wirtschaft gut gehen und dann könne es den Menschen und dann vielleicht mal dem Planeten gut gehen. Das wird bei der Energiewende ganz konkret. CDU, FDP, BSW sind sich da mit der AfD einig, die Energiewende führe zur Deindustralisierung Deutschlands. Das ist genauso Quatsch wie der Glaube, der Markt können das alles regeln. Gerade bei der Wärmwende brauchen wir ein Umdenken, wenn bis 2035 alle Haushalte in Stuttgart mit bezahlbarer erneuerbarer Wärme versorgt sein sollen. Wir müssen diese unbedingt als Teil einer öffentlichen Daseinsvorsorge begreifen. Nur mit einem massiven Ausbau unserer Wärmenetze durch Stadtwerke und Bürgergenossenschaften kann uns das bezahlbar gelingen.
Bei der Frage der Verkehrswende ist in der Tat die enge Verbindung des OBs und der CDU mit der Autoindustrie der Grund, warum wir mit angezogener Handbremse unterwegs sind. Ebenso beim Projekt einer autofreien Innenstadt, womit Schadstoffe massiv gesenkt und die Vorteile der Verkehrswende erlebbar würden. Und das, obwohl der Klima- BürgerInnenrat hier wirklich mutige Vorschläge wie den Abbau von 5% Parkplätzen pro Jahr gefordert hat.
SÖS: Ist das nicht eine Kernfrage? Der Klima- BürgerInnenrat erarbeitete ein Sofortprogramm, das wir voll unterstützen. Und jetzt stellt sich heraus: das war eine Mitmachfalle, eine Alibi-Mitbestimmung. In dem neuen Buch „Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht“ schreibt Prof. Jens Beckert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, dass die „Funktionsweise der kapitalistischen Moderne“, nämlich der Zwang zum Wachstum, im „unüberbrückbaren Widerspruch zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen“ steht. Er sieht nur einen Ausweg: in der Kommunalpolitik müssten „moralische Handlungsstrukturen entstehen“, wenn überhaupt sei eine Vollbremsung vor dem Abgrund nur „von unten“ erreichbar.
HANNES ROCKENBAUCH: Das halte ich auch für den Kernpunkt. Wenn ich an das jahrelange Zerreden der Klimaziele im Gemeinderat denke, an die fortschreitenden Katastrophen weltweit, dann kann ich nur Fridays for Future, das Klima- und Umweltbündnis Stuttgart (KUS), den Klima- BürgerInnenrat, die Naturfreunde, den BUND, den NaBu auffordern, ihre Zurückhaltung abzulegen und Dampf im Kessel zu machen. Ohne den Druck aus der Zivilgesellschaft sind wir zu schwach gegen die Autolobby und die Protagonisten des „Weiter so!“.
SÖS: Ist das Klimaneutralitätsziel 2035 überhaupt noch zu erreichen?
HANNES ROCKENBAUCH: Die Erreichung ist eigentlich alternativlos. Was aber klar ist, wenn wir so weiter machen wie bisher, dann sicherlich nicht. Ich halte aber gar nichts davon, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken. Ich will alles tun, dass wir das scheinbar Unmögliche doch noch schaffen. Ich frage mich bei jeder Tagesschau: Der Klimawandel ist radikal, warum sind wir noch so zahm?
Nehmen wir die Zukunft in die eigene Hand! Umweltverbände – macht Dampf im Kessel, damit die Klimaziele 2035 erreicht werden: “ Der Klimawandel ist radikal, warum sind wir noch so zahm?“
Lebensqualität gewinnen durch Maßnahmen gegen den Klimawandel
SÖS: Was braucht es denn?
HANNES ROCKENBAUCH: Das Wichtigste ist jetzt die klare politische Übereinstimmung des Gemeinderats, dass wir Klimaneutralität 2035 nur erreichen, wenn wir jetzt alle Ressourcen darauf ausrichten, das bereits beschlossene Ziel zu erreichen. Dazu braucht es also einen tatsächlichen Klimavorbehalt für alle zukünftigen Beschlüsse und laufenden Projekte. Wenn ich auf die geplantenGroßprojekte schaue, z.B. den Abriss und Neubau der Schleyerhalle oder die Opernsanierung, dann bin ich mir nicht sicher, ob die Mehrheiten im Gemeinderat das mit dem Klimaziel 2035 so ernst meinen. Unsere Fraktion kämpft dafür, diese Milliarden konsequent für die nötigen massiven Investitionen in erneuerbare Energien, Verkehrswenden und die Klimaanpassung umzuschichten. Klar ist, falsche Sparsamkeit darf es beim Klimaschutz und Klimaanpassung nicht geben. Die Umweltzerstörungen, die wir jetzt vorprogrammieren, werden ein Vielfaches der Vorsorge kosten. Ein Schlüsselmoment ist: Wir müssen die Menschen mitnehmen und sie überzeugen, dass dieser Stadtumbau unsere Stadt lebenswerter und sicherer macht. Bessere Luft, weniger Hitzetage und die Teilhabechancen für alle erhöhen, z.B. durch einen kostenlosen Nahverkehr. Die Klimawandelleugner der AfD schüren Angst vor Klimaanpassungen, vor einer angeblich drohenden Öko-Verzichts-Diktatur. Dieser Angst müssen wir den Boden entziehen. Klimaanpassung heißt z.B. Verzicht auf noch mehr Hitze, Verzicht auf schlechte Luft und davon profitieren wir alle!
Die Wissenschaft warnt: So können wir nicht weitermachen!
Die Verwaltung umbauen
SÖS: Deine Ideen in Ehren, aber wie soll das mit dieser gelähmten Verwaltung Realität werden?
HANNES ROCKENBAUCH: Wir brauchen den schnellen Aufbau einer handlungsfähigen und umsetzungsstarken Klima-Verwaltung, mit einem Klimabürgermeister und einem Klimareferat.
Wir dürfen aber nicht glauben, ein einziges Referat könne dieses komplexe Problem alleine lösen. Um Stuttgart wirklich klimagerecht weiterzuentwickeln, müssen alle im Rat und in der Verwaltung mit anpacken. Wir brauchen ein Betriebsklima, in dem eine hohe Motivation für diesen Umbau vorherrscht. Es braucht eine entstaubte Bürokratie. Ich sehe mehrere Gründe, warum ein Klimareferat Sinn macht:
- In meinen 20 Jahren im Rathaus habe ich gelernt, dass es in der Verwaltung eine klare Verantwortlichkeit, mit Durchsetzungskompetenzen, geben muss, die man auch politisch zur Verantwortung ziehen kann. Sonst diffundiert die Verantwortung in der Verwaltung einfach weg und am Ende zeigt jeder mit dem Finger auf den anderen. Die Verantwortung für diese Strukturen liegt entweder beim OB, was in unserem Falle ein Problem wäre, oder auf der Bürgermeisterbank.
- Diese wichtige Verantwortung einem neuen Referat und einem neuen Bürgermeister alleine aufzuhalsen oder abzuschieben, halte ich für nicht sachgerecht. Die Gefahr, dass die bisherigen Verantwortlichen diese „Neuen“ auflaufen lassen, ist groß. Wir brauchen eine Motivationskampagne in der Verwaltung, dass sich jeder die Klimaziele zu eigen macht und sich sicher sein kann, dass Initiative belohnt wird.
- Deshalb muss ein Klimareferat bei einer so komplexen Aufgabe von der Strategie über das gesamte städtische Monitoring und die Steuerung in Sachen Klimaneutralität und Klimaanpassung volle Kompetenzen innehaben. Wie die Verzahnung von agilen referatsübergreifenden Arbeitsgruppen zu den einzelnen Sektoren, der übergeordneten Steuerung sowie der Wirkung in die Stadtverwaltung hinein aussehen könnte, dazu haben Drees & Sommer gute Vorschläge gemacht.
- Mit einer oder einem KlimabürgermeisterIn gebe es auch in die Stadtgesellschaft hinein ein erkennbares Zeichen des Aufbruchs und des Willens, welch hohen Stellenwert das Klima hat. Ich glaube, für eine Dynamik in die Gesellschaft hinein ist das nicht zu unterschätzen.
- Und schließlich brauchen wir alle BürgerInnen, v.a. die Kinder und Jugendlichen, sonst wird es nix mit der Klimaneutralität bis 2035. Sie müssen ihr Recht auf eine lebenswerte Zukunft einfordern können.
SÖS: Hannes, ich habe den Eindruck, Du wärst gerne selbst Klimabürgermeister! Dieser Umbau der Verwaltung darf aber nicht 5 Jahre dauern!
HANNES ROCKENBAUCH: Ja, es muss rasch gehandelt werden! Es liegt nicht in erster Linie an Personen. Wir brauchen die Einsicht des Gemeinderates, dass alte Wirtschaftskonzepte und die lähmende Wachstumsideologie überwunden werden müssen. Die Stadt muss von ihrer zögerlichen Haltung wegkommen, damit die Stuttgarter Zeitung nicht mehr titeln kann: „Hauen und Stechen beim Klimaziel!“(12.10.2024), sondern die nächste Schlagzeile heißt: „Parteienübergreifender Konsens: Ehrgeizige Klimaziele sofort verwirklichen!“
SÖS: Hannes, danke für das Interview, wir wünschen Dir weiter Durchhaltevermögen!
Die Fragen stellte Peter Hensinger von der SÖS Newsletter-Redaktion
Bilder: SÖS, Fridays for Future, LHS Parsyak