
Stuttgart wird von einem nächsten Krieg als Erstschlags-Zielscheibe von Raketen und Drohnen besonders betroffen sein. Warum, dazu ein Interview mit SÖS-Regionalrat Paul Russmann. Er war 30 Jahre hauptamtlicher Referent für Frieden und Abrüstung der ökumenischen Friedensorganisation Ohne Rüstung Leben (ORL) im Stuttgarter Westen: www.ohne-ruestung-leben.de. Der Bankkaufmann und Diplomtheologe koordinierte darüber hinaus viele Jahre die Kritischen Aktionäre Daimler. Mit Dialog und Protest, Lobbyarbeit und Aktionen engagiert sich ORL bundesweit bereits seit 1978 gegen Rüstungsproduktion und Rüstungsexporte, für eine atomwaffenfreie Welt und für den Ausbau des „Zivilen Friedensdienstes.“
SÖS: Lieber Paul, die Frage von Krieg und Frieden ist auch Lokalpolitik. Vom EUCOM aus in Vaihingen werden US-Kriegshandlungen gesteuert, auf dem Burgholzhof, in Möhringen und in Böblingen sind US-Soldaten stationiert. Was ist bei einem europafeindlichen Kurs von Donald Trump, wenn die Soldaten bleiben, was ist, wenn die Soldaten abgezogen werden. Was hältst Du für wahrscheinlich?
Paul Russmann: Zu einer möglichen Reduzierung der Zahl amerikanischer Soldaten in Europa äußerte sich Trump bisher nicht. Nach Angaben des Europa-Kommandos der US-Streitkräfte (Eucom) sind derzeit rund 78.000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert – darunter etwa 37.000 in Deutschland. Seit Trumps Amtsantritt gehen Spekulationen um, dass der US-Präsident die Zahl reduzieren könnte. Solche Bestrebungen hatte er bereits in seiner ersten Amtszeit verfolgt.
Gleichgültig, ob Trump die US-Truppen aus dem Ländle reduziert oder ganz abzieht – die beiden Kriegskommandozentralen AFRICOM und EUCOM sind m. E. aus strategischen Gründen für die USA unverzichtbar. Das AFRICOM und das EUCOM sind zwei der weltweit sechs Oberkommandos der US-Streitkräfte: Sie sind die einzigen Kommandozentralen außerhalb der USA und liegen beide auf Stuttgarter Stadtgebiet.
SÖS: Für welche Regionen in der Welt sind die beiden Stuttgarter US-Kommandozentralen zuständig?
Paul Russmann: Mit Ausnahme von Ägypten steuert das AFRICOM in Stuttgart-Möhringen alle militärischen Einsätze der USA in Afrika. Das EUCOM ist für alle militärischen Aktionen der USA in Europa, Russland und Israel zuständig.
Das AFRICOM erstellt zum Beispiel die Todeslisten für den Einsatz von Kampfdrohnen. Das EUCOM in Stuttgart-Vaihingen koordinierte unter anderem die Angriffe gegen den Irak und Libyen sowie dass Kriegsmanöver »Rapid Trident« in der Ukraine. Von Stuttgart aus befehligt die US-Kommandozentrale EUCOM auch alle US-Atomwaffen in Europa. Deutschland besitzt selbst keine Atomwaffen. Aber 15 US-amerikanische Atombomben sind in Büchel in Rheinland-Pfalz stationiert. Die Bundeswehr trainiert im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ den Einsatz dieser Waffen. Und ein Atomkrieg würde ohnehin nicht vor Grenzen haltmachen.

Stuttgart, Stiftskirche 1945, Hiroshima 1945: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ (Bertolt Brecht)
SÖS: Schon seit 2005 gehört Stuttgart zur weltweiten Gemeinschaft der »Bürgermeister für den Frieden«, deren Ziel: Die Abschaffung aller Atomwaffen.
Paul Russmann: Am 1. Februar 2020 unterschrieb der vormalige OB Fritz Kuhn (Grüne) den ICAN-Städteappell, er sagte: „Als Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart bin ich zutiefst besorgt über die immense Bedrohung, die Atomwaffen für Städte und Gemeinden auf der ganzen Welt darstellen. Wir sind fest überzeugt, dass unsere Einwohner und Einwohnerinnen das Recht auf ein Leben frei von dieser Bedrohung haben. Jeder Einsatz von Atomwaffen, ob vorsätzlich oder versehentlich, würde katastrophale, weitreichende und langanhaltende Folgen für Mensch und Umwelt nach sich ziehen. Daher begrüßen wir den von den Vereinten Nationen verabschiedeten Vertrag zum Verbot von Atomwaffen 2017 und fordern die Bundesregierung zu deren Beitritt auf.“
SÖS: Der ehemalige OB Kuhn wollte zurecht ein Atomwaffenverbot. Ist Deutschland mittlerweile dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beigetreten?
Paul Russmann: Im Gegenteil – wir erleben eine zunehmende Rhetorik in Gesellschaft und Politik, die Atomwaffen als Sicherheitsstrategie in unseren europäischen Ländern darstellt. Für Ohne Rüstung Leben und seine ICAN-Partner ist die nukleare Abschreckung keine verantwortungsvolle oder nachhaltige Sicherheitsstrategie. Nukleare Abschreckung ist keine Lösung – sie ist Teil des Problems.
SÖS: Wieso sind Atomwaffen Teil des Problems?
Paul Russmann: Sie bedeutet zwangsläufig die ständige Bereitschaft, Fähigkeit und Drohung, Massenmord an Zivilbevölkerungen zu begehen. Dies ist ein zynisches Verständnis von Sicherheit. Es ist verwerflich, wenn irgendein Staat – insbesondere jedoch jene, die vorgeben, Demokratie, Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht zu verteidigen und zu fördern – darüber spricht, zivile Leben und Existenzen aufs Spiel zu setzen.

Erfolgreiche Massenproteste gegen die Stationierung von Pershing 2 – Mittelstreckenraketen in Mutlangen und in Bonn in den 1980er Jahren
SÖS: Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges sollen wieder US-Mittelstreckenwaffen nach Deutschland kommen.
Paul Russmann: Diese Raketen und Marschflugkörper tragen weder zum Frieden noch zu mehr Sicherheit bei, ihre Stationierung ist destabilisierend und hoch riskant. Diese Waffensysteme können mit einer stark verkürzten Vorwarnzeit strategische Ziele, etwa Atomwaffenstandorte in Russland treffen, was zu einer erhöhten Alarmbereitschaft in Russland führen kann und das Risiko von Fehlentscheidungen verschärft.
Sollte es zum Krieg mit Russland kommen, führt das EUCOM mit seinen rund 2600 Soldaten, Zivilisten und Vertragsnehmern die US-Truppen in Europa in den Kampf: „Mit unseren Fähigkeiten versetzen wir das Nato-Hauptquartier in die Lage, erfolgreich zu sein“, erklärt General Peter B. Andrysiak.
SÖS: Es gibt immer noch genug Atombomben, um die Menschheit mehrmals auszulöschen …
Paul Russmann: … ja, deshalb spricht alles gegen sie: Atomwaffen sind hoch riskant, ihr Einsatz ist völkerrechtswidrig und hätte unvorstellbare humanitäre Folgen. Die große Mehrheit der Staaten ist gegen nukleare Waffen! Deshalb fordert Ohne Rüstung Leben den sofortigen deutschen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag und die Vernichtung aller Atomwaffen weltweit!
SÖS: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und verstärkt durch den Amtsantritt Donald Trumps werden die Forderungen immer lauter, auch konventionell massiv aufzurüsten …
Paul Russmann:… und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann redet vom Ende einer nie vorhandenen „pazifistischen Friedensdividende“. Dabei gehören die Bundesrepublik und auch Firmen im Ländle schon seit Jahrzehnten zu den weltweit führenden Händlern des Todes in Krisen- und Kriegsgebiete. Unter der Ampelregierung sind die „Verteidigungsausgaben“ und die Rüstungsexporte auf Rekordniveau gestiegen.
Statt für ein gemeinsames Europa ohne Mittelstreckenwaffen einzutreten, befindet sich der ehemalige Kriegsdienstverweigerer und amtierende Wirtschaftsminister, Robert Habeck, auf Kriegskurs: „Wir müssen fast doppelt so viel für unsere Verteidigung ausgeben, damit Putin nicht wagt, uns anzugreifen. Wir müssen den Frieden sichern und weiteren Krieg verhindern.“ Jetzt wurden unvorstellbare 500 Milliarden Euro für diese Aufrüstung im Bundestag beschlossen, mit Hilfe der Grünen.
SÖS: Im Krieg Klasse acht im U-Bahn-Schacht?
Paul Russmann: Mit der geplanten Wiedereinführung der Wehrpflicht wird die Letzte Generation als einsatzbereites Kanonenfutter im Krieg verheizt. Michael Giss, Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg, will „bald mit der Kultusministerin Gespräche beispielsweise zum Schulbetrieb unter Kriegsbedingungen führen. Wir sollten unter anderem überlegen, in welchem U-Bahn-Schacht Klasse acht Mathematikunterricht hat und in welchem Klasse vier Deutsch.“

Rüstung, Krieg und Leichen – immer Profite für die Reichen. Der Aktienkurs von Rheinmetall explodiert, Grafik vom 18.03.2025 in der Stuttgarter Zeitung.
SÖS: Einst hieß es „Schwerter zu Pflugscharen!“ Konvertieren jetzt Bosch-Zündkerzen zu Zündköpfen?
Paul Russmann: Ministerpräsident Kretschmann unterstützt offensiv seit längerem die Forderungen aus der Rüstungsindustrie nach einem Rüstungsbeschleunigungsgesetz, „damit Deutschland bis 2029 kriegstüchtig“ wird, so Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV). Der BDSV wirbt mit dem zynischen Slogan „Sicherheit ist die Mutter aller Nachhaltigkeit“ dafür, Investitionen in „Verteidigung“ als nachhaltig einzustufen. Damit erhielten Waffenproduzenten das sogenannte ESG-Siegel für besonders verantwortungsvolle Geldanlage. Die Vorstandssprecherin der SÖS-Hausbank GLS, Aysel Osmanoglu widerspricht: „Die Produktion von Waffen, ihr Export und ihr Einsatz sind nicht nachhaltig! Krieg ist nicht nachhaltig. (…) Das Einsammeln von Kapital generiert ein wirtschaftliches Interesse, den Umsatz von Rüstungsgütern zu erhöhen. Die Idee, dass nur so viele Waffen produziert werden, wie es zur Verteidigung braucht, wird ad absurdum geführt. Dieses System wollen wir nicht unterstützen.“
SÖS: It´s economy stupid! Oder?
Paul Russmann: In aller Kürze: Wozu führte diese scheinbare Alternativlosigkeit der gegenseitigen Hochrüstung in der Weltgeschichte? Immer zur Eskalation, Zerstörung, Millionen von Toten, Verkrüppelten, Traumatisierten. Das Volk opferte seine Söhne und Töchter. Die Reichen blieben reich. Um welche Werte ging es? Der französische Ökonom Frédéric Bastiat schrieb sinngemäß: „Wenn Waren nicht mehr die Grenzen überschreiten, dann tun es die Soldaten.“ (1) Es geht nicht um demokratische Werte, weder den Großmächten USA, Russland und China, noch Europa. Es geht um Rohstoffe und Absatzmärke, analysiert Harald Welzer in der TAZ. Spätestens Trump macht nun klar, worum es in der Ukraine eigentlich geht, um Rohstoffe.

In der Stuttgarter Staatsgalerie: Gemälde von Otto Dix “Streichholzhändler”, nach dem I. Weltkrieg. Kriegsversehrte nach dem II. Weltkrieg: Kein Dank des Vaterlandes!
SÖS: Nun, nach Umfragen stimmen derzeit über 70% der Deutschen dem Argument zu: Nur mit Aufrüstung könne man einen Aggressor wie Putin stoppen, durch Abschreckung. Welche Alternativen gibt es denn?
Paul Russmann: Wer die Geschichte, wer die Motive kennt, weiß: Das alles läuft auf einen Krieg zu, bei dem Stuttgart als allererstes ins Visier von Raketen kommen wird. Stuttgart hat den I. und II. Weltkrieg erlitten. Bertolt Brecht schrieb: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ Das müssen wir verhindern. Das ist alternativlos!
SÖS: Mit der Hochrüstungslogik wird also eine Friedenspolitik mit Weitsicht ausgeschlossen?
Paul Russmann: Unter Weitsicht verstehe ich wie Ohne Rüstung Leben eine Politik, die planvoll, begründet und glaubwürdig das Ziel verfolgt, nachhaltigen Frieden und gemeinsame Sicherheit zu fördern. Grundlage dafür müssen das Völkerrecht und die Menschenrechte, die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung sowie die Erfahrung von Fachleuten sein.
Aktuell mischt sich die Friedensbewegung gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Koalitionsverhandlungen ein und fordert von der neuen Bundesregierung u. a. dem Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag, keine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa, den Einsatz für den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland. Zentrales Ziel einer regelbasierten deutschen Außenpolitik sollte es sein, der Stärke des Rechtes Geltung zu verleihen. Zu den aktuellen Aktionen, Positionen und Forderungen mehr auf folgenden Seiten:
www.ohne-ruestung-leben.de / https://www.friedenskooperative.de .

Banner im Stuttgarter Westen, 2022
(1) Ursprungszitat: „Öffnet eine Zollgrenze für den Handel, so ist das ein Schritt in Richtung Frieden. Errichtet ihr eine solche Barriere, so ist das ein Schritt in Richtung Krieg.“ („Ouvrez à la circulation une barrière douanière, c’est un pas de fait vers la paix. Élevez cette barrière, c’est un pas de fait vers la guerre.“) (Frédéric Bastiat ,1801–1850)
Weitere Artikel von Paul Russmann:
https://s-oe-s.de/2024/03/19/ostermarsch-2024-friedens-statt-kriegstuechtig/
https://s-oe-s.de/2024/10/07/erstes-soes-statement-in-der-regionalversammlung/
Bilder v.o.n.u.: SÖS, zerbombtes Stuttgart-wikipedia, Hiroshima – wikipedia, Mutlangen-wikipedia, Bonn-Wikipedia, Heartfield AIZ, Stuttgarter Zeitung, Kunstmuseum Stuttgart, Staatsgalerie, wikipedia, SÖS
Literaturempfehlung: Wer sich über die weltweit barbarischen Auswirkungen des II. Weltkrieges auf neuestem Stand der Forschung informieren will:
Richard Overy: Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931-1945, Rowohlt 2023
Die Fragen stellte Peter Hensinger, SÖS Newsletter Redaktion
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