
Und ewig quillt der Anhydrit – Gottes Segen für die Tunnelbauer
„Es wird nichts passieren“ – versicherten die Experten. Tunnelbau im Anhydrit haben wir im Griff. Nun ist es passiert. Der Freudensteintunnel muss gesperrt werden, die Hauptstrecke Stuttgart-Mannheim ist 7 Wochen außer Betrieb. Über die Hintergründe berichtet Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.
Rechtzeitig vor Ostern hat die Deutsche Bahn AG ihren Kundinnen und Kunden ein faules Ei ins Nest gelegt. Sie kündigte an, den Freudensteintunnel auf der Schnellfahrstrecke zwischen Stuttgart und Mannheim ab Gründonnerstag bis 6. Juni 2025 vollständig zu sperren. Er war im Jahr 1990 fertiggestellt und mit der Eröffnung der Schnellfahrstrecke 1991 in Betrieb genommen worden. Schon 2009 waren „größere Schäden am Bauwerk“ dokumentiert worden. 2014 und 2017 wurden dem Tunnel bereits „umfangreiche Schäden“ bescheinigt. Erst 2020 wurde die Strecke dann umfassend saniert. Die Fahrtzeit zwischen Stuttgart und Mannheim wird sich als Folge der jetzigen Umleitung um 45 Minuten verlängern.
Grund für die Sperrung des Eisenbahntunnels ist ein Quellen des Gesteins, welches zu Rissen in der Innenschale der Tunnelröhre geführt hat. Spätestens beim Stichwort „Anhydrit“ als Ursache wird man in Stuttgart hellhörig. Denn wie der Freudensteintunnel liegen auch weite Strecken der Stuttgart-21-Tunnel, nämlich ca. 20 km, im quellfähigen Gipskeuper. Wenn dieser mit Wasser in Berührung kommt, quillt das Gestein. Fachleute ziehen den Vergleich zum Hefeteig, denn das Quellen kann zu einer Volumenzunahme bis zu 60 % führen und bis 120 bar Druck erzeugen. Der Vorgang kann nicht mehr gestoppt werden und erfordert immer wieder Sanierungen, wie wir vom Stuttgarter Wagenburgtunnel, dem Leonberger Engelbergbasistunnel und der Altstadt von Staufen im Breisgau wissen.
Genau genommen ein Glücksfall für die Bauindustrie. Denn ewig sprudeln die Einnahmen aus immer neuen Sanierungsaufträgen. Allein die eher kläglich anmutenden Notmaßnahmen im Freudensteintunnel wie das Anbringen von Drahtnetzen zum Schutz vor herabfallenden Deckenstücken werden mit 7,5 Millionen Euro veranschlagt.

Im Freudensteintunnel quillt es – 7 Wochen gesperrt – kein Anlass
zur Freude!
Gutachten aus der Glaskugel
Künftig winken den Tunnelbauern jedoch unermessliche Mehreinnahmen, sollte sich das Risiko des Aufquellens auch beim Projekt Stuttgart 21 verwirklichen. Wie beim Freudensteintunnel war von Anfang an auch bei den Stuttgarter Tunneln die Problematik des Bauens im Anhydrit bekannt. Doch das Risiko wurde kleingeredet. Die Bahn und vor allem ihr Berater Prof. Dr. Walter Wittke mit seiner Firma WBI („Experten für Geotechnik und konstruktiven Ingenieurbau“) rühmten sich damit, am Freudensteintunnel sogar einen weltweit einzigartigen Forschungsstollen eingerichtet zu haben. Der wurde von der Bahn gebaut und betrieben sowie von Wittke „betreut und mit hochsensiblen Messgeräten bestückt“. Damit wollte man für alle Eventualitäten gerüstet sein. In der Ausgabe Mai 2012 des Bahnmagazins „Bezug“ wurde „eine Exkursion ins steinerne Labor“ geschildert und Prof. Wittke als Garant für sicheres Bauen präsentiert. Stolz verkündete Stefan Penn, damals S21-Chefplaner: „Das ist, als gäben wir dem Wanderer nicht nur zwei Regenschirme und zwei Regenmäntel mit, sondern auch noch wasserdichte Unterwäsche.“

Anhydrit-Dauerbaustelle Engelbergtunnel
Propheten mit Professorentitel
Prof. Wittke wurde beim Faktencheck (bekanntgeworden als „Schlichtung“) zu Stuttgart 21 unter Dr. Heiner Geißler am 20.11.2010 als Sachverständiger für „Tunnelbau im Anhydrit“ präsentiert. Der Freudensteintunnel musste als Beweis dafür herhalten, dass man die Probleme im Griff habe. Wittke legte sich auf ausdrückliche Nachfrage fest: „Es gibt kein Quellen im Freudensteintunnel. Diesen zähle ich zu den erfolgreichsten. Sie können auch lange warten; es wird nichts passieren, wenn Sie sich das genau anschauen.“ Unter ausdrücklichem Hinweis auf diese positiven Erfahrungen („20 Jahre Versuche und Messungen“) äußerte sich Prof. Wittke zu Stuttgart 21: „Das Risiko ist vernachlässigbar.“
Sollten sich Wittke und die Projektbefürworter bei Stuttgart 21 ebenso wie beim Freudensteintunnel getäuscht haben, sind die Aussichten für einen sicheren und zuverlässigen Bahnbetrieb in Stuttgart (falls die Tunnel jemals in Betrieb genommen werden) düster. Denn schon eine Hebung des Tunnelbodens um wenige cm führt dazu, dass ein Tunnel für lange Zeit gesperrt werden muss. Dies hätte ganz erhebliche Auswirkungen auf den Bahnbetrieb in Stuttgart insgesamt. Sperrungen und Umleitungen wären die Folge. Für den Fernverkehr müsste einmal mehr Esslingen an die Stelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs treten. Die Folgen einer notwendigen Sperrung sind in der vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 in Auftrag gegebenen Studie „Infarkt-Risiko bei Stuttgart 21“ detailliert untersucht worden. Siehe:
https://kopfbahnhof-21.de/wp-content/uploads/2024/03/Resilienz-Studie-Stand-final.pdf

Rathaus Staufen – unbewohnbare Häuser, das Ergebnis von Bohrungen im Anhydrit
Hauptsache Bauen
Aber: Sind vielleicht in Wahrheit die fetten Aufträge für die Tunnelbauindustrie verlockender als ein zuverlässiger Bahnbetrieb? Warum sonst würde man bewusst Risiken wie quellenden Anhydrit, unzureichenden Brandschutz, Überflutung u.a. in Kauf nehmen? Dabei sind Bau und Betrieb von Tunneln ungleich teurer als oberirdische Strecken – vom CO2-Abdruck ganz zu schweigen. Zudem ist der Energieverbrauch bei Fahrten im Tunnel im wahrsten Sinne des Wortes unterirdisch.
Dies alles ficht die Verantwortlichen nicht an. Die Firma WBI (Familienbetrieb von Prof. Wittke: „ jahrzehntelange Forschung und Entwicklung“) wird vielmehr am 22. Mai 2025 in Weinheim den 10. Felsmechanik- und Tunnelbautag veranstalten. Es geht unter anderem um die „ Anwendung des Partnerschaftsmodell Schiene beim Pfaffensteigtunnel“. Sponsor der Tagung ist die DB InfraGo AG, welche für Stuttgart 21 verantwortlich ist. Im Beirat sitzt der Tunnelbauer Dr. Martin Herrenknecht ebenso wie Manfred Leger, ehemals bei der Bahn direkt für Stuttgart 21 verantwortlich. Also Auftraggeber und Auftragnehmer in trauter Runde. Und weitere Aufträge locken. Das gigantische soeben beschlossene „Sondervermögen“ muss verteilt werden. Vielleicht ruht Gottes Segen nicht nur auf Stuttgart 21, sondern auch auf den Tunnelbauern?
Dieter Reicherter
Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21
Bilder: SÖS, Wikipedia
Ähnliche Beiträge:

Unsere Kulturtipps für die Osterzeit

Stadthaushalt: Zukunft gestalten statt Mangel verwalten!

LBBW – Geschäfte ohne Moral!
