
Bildungskatastrophe: Alternativen für eine Erziehung zur Medienmündigkeit!
Der Stuttgarter 39 Millionen Euro Skandal (Teil III)
In den ersten zwei Artikeln wurde nachgewiesen, dass die Digitalisierung der Bildung die Bildungskatastrophe nicht lösen, sondern vertiefen wird. Welche Probleme müssen an den Erziehungseinrichtungen vordringlich gelöst werden? An den Kitas ist es der ErzieherInnenmangel, an Schulen der LehrerInnenmangel. Angesichts der explodierenden Anzahl psychisch kranker Kinder braucht es für KiTas und Schulen Sozialarbeiter und Psychologen, gegen den Rückzug vieler Kinder und Jugendlichen auf das Smartphone braucht es die Vermittlung von Alternativen mit Spielplätzen, Naturerlebnisräumen, Kultur- , Spiel- und Sportangeboten, Förderung von Kunst- und Musik AGs. Für die Überwindung der Bildungskatastrophe, v.a. dem Sturzflug der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Zuhören und Sprechen muss die einseitige MINT-Orientierung (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) korrigiert und müssen Sonderprogramme aufgelegt werden. Alle diese Probleme werden durch den Einsatz digitaler Medien, forciert und von der Politik, nicht gelöst, sondern verschärft. Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, stellt in der Süddeutschen Zeitung fest: “Es sitzen Personen in Entscheidungspositionen, die keine Ahnung von der Praxis in den Schulen haben“ (17.04.2025). Trifft das auch auf die Stuttgarter Verwaltung zu?
Angesichts der Wucht, mit der die Digitalisierung alle Lebensbereiche umkrempelt, sind Lösungen nicht einfach. Eine öffentliche Debatte ist notwendig. Wie werden Kinder medienmündig und beherrschen nach dem Schulabschluss die digitalen Medien, ohne von ihnen abhängig bis gar süchtig zu werden? Wie das Analoge und Digitale altersgemäß produktiv verknüpft werden können, dafür hat die Erziehungswissenschaft umfassende Konzepte zur Medienerziehung vorgelegt (Bleckmann 2019, 2023, Möller 2023, Lankau 2021, 2022, 2023, Hensinger 2023, Teuchert-Noodt 2025, Lesch 2024, Engartner 2024), mit denen sich die Politik unter dem Einfluss der Industrielobby aber nicht beschäftigt.

Lehrberufe müssen einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert bekommen, auch mit besserer Bezahlung!
Das Analoge mit dem Digitalen verbinden
Heute wachsen die Schülerinnen und Schüler in einer digitalisierten Umgebung auf. Dafür brauchen sie Orientierung. In den Schulen braucht es fächerübergreifend eine Medienkunde, die alle Medien einschließt. Den Kindern sollten altersgerecht Nutzen und Risiken der Digitalisierung vermittelt werden. Dabei müssen Jugendschutz und Suchtprävention verwirklicht werden. Dazu braucht es kein Smartphone, schließlich wird bei der Drogen-, Alkohol- und Raucherprävention auch nicht der Suchtstoff konsumiert. Die Risiken schlechter Ernährung werden nicht durch den Konsum von Junk Food vermittelt. Erziehungskonzepte fordern eine altersgerechte Medienerziehung, die bis zum 16. Lebensjahr bildschirmfrei sein muss. Bis dahin müssen die Kinder alle die Grundqualifikationen erwerben, die sie instandsetzen, digitale Medien selbstbestimmt zu nutzen. Das setzt aber die Fähigkeiten zur Impulskontrolle und Reflexion voraus, die erst ab ca. dem 16. Lebensjahr entwickelt sind. Die 39 Millionen Euros können sinnvoll auch im Rahmen der Gebundenheit an den DigitalPakt eingesetzt werden:
- Ab dem 16. Lebensjahr kann die direkte Ausbildung an digitalen Medien beginnen. Dafür braucht es gut ausgestattete, verkabelte Computerräume.
- An jeder Schule sollte es ein digitales Ton- und Filmstudio geben, in denen das analog Gelernte in z.B. in Podcats, Slow Motion Videos oder Filme umgesetzt wird.
- In den Naturwissenschaften werden AGs und Leistungskurse gefördert, die z.B. Roboter konstruieren und dabei das Wissen in Informatik, Physik und Mathematik umsetzen.
- Dazuhin wird ein fächerübergreifender Smartphone-Führerschein eingeführt, in dem auch die Kenntnisse der Risiken abgefragt werden.
- WLAN gilt als gesundheitsschädliche Technologie. Dass Bundesamt für Strahlenschutz (2012) und selbst die Telekom empfehlen, es nicht in der Nähe von Menschen zu installieren (Telekom 2017). Eine bessere Alternative ist serienreif, LiFi, die Datenübertragung über Licht. Sie sollte an allen Schulen dort installiert werden, wo auf mobile Kommunikation nicht verzichtet werden kann.

Für das Arbeiten am Bildschirm gelten strenge, arbeitsmedizinische Vorschriften. Smartphones und Tablets sind als Arbeitsgeräte nicht erlaubt. Darüber setzen sich die Stadt Stuttgart sowie die Bundesregierung hinweg, körperliche Schädigungen sind vorprogrammiert.
Stadt verstößt gegen Richtlinien: Tablets als Arbeitsgeräte sind verboten!
Die Stadt Stuttgart verstößt mit der Einführung von Tablets an Schulen gegen Grundsätze der Arbeitsergonomie. Das Lernen am Bildschirm muss sich an ergonomische Vorschriften orientieren und an großen Bildschirmen erfolgen. In Betrieben gelten strenge Regeln für die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung der Büroarbeit (BGHM o.D.). Die „S2k-Leitlinie Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ von 11 deutschen Fachverbänden weist auf den Regelverstoß durch die Einführung von Tablets an KiTas und Schulen hin:
„Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass digitaler Unterricht dieselben Beschwerdebilder mit sich bringt, wie die klassische Büroarbeit bzw. Bildschirmtätigkeit: Kopfschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit, muskeloskelettale Erkrankungen und Erkrankungen der Augen. Ein großer Teil der Kinder verfügt über keinen Zugang zu umfassend ausgestatteten PC-Arbeitsplätzen und folgt somit dem digitalen Unterricht auf mobilen Endgeräten. Nicht zuletzt, weil viele Schulen zur Sicherstellung des digitalen Unterrichts dazu übergegangen sind, Tablets in großen Mengen zu kaufen oder von der Industrie als Geschenk entgegenzunehmen, und als Leihgeräte an Schüler auszugeben. Diese Entwicklung ist bedenklich, da die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aufgrund der erhöhten Risiken physischer Beanspruchung dazu rät, Tablets und Smartphones nur kurzzeitig zu nutzen .“ (Leitlinie 2023, S.17)
Als Lern- und Arbeitsgeräte werden Tablets und Smartphones aber nicht kurzzeitig genutzt, daher sind ergonomisch ausgestattete Bildschirmarbeitsplätze zum Schutz von Folgeschäden Pflicht. Insbesondere frühe Kurzsichtigkeit mit einem hohen Risiko früher Erblindung ist eine Folge kleiner Bildschirme. Prof. Manfred Spitzer (s.a. 2022) hat in einem Review, der Teil des Gutachtens an die Stadt Stuttgart war, diese gesundheitlichen Folgen ausführlich dokumentiert. Sich darüber hinwegzusetzen, grenze an wissentliche Körperverletzung, sagte Spitzer in einem Vortrag.

Die Initiatoren des Appells der 75 Experten zum Stopp der Digitalisierung: Dr. Uwe Büsching, Dr. Mario Gerwig, Peter Hensinger MA, Prof. Ralf Lankau, Prof. Manfred Spitzer, Prof. Klaus Zierer
75 Experten fordern eine pädagogische Wende: Alternative Bildungskonzepte liegen vor
Es braucht eine vorurteilslose Debatte über den altersgerechten Einsatz digitaler Medien auf der Grundlage der Beiträge der kritischen Erziehungswissenschaften. Das Bündnis für humane Bildung hat am 12. März an die Verhandler des Koalitionsvertrages das Konzept „Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation“ für einen Ausweg aus der Bildungskatastrophe eingereicht, unterzeichnet von 75 Experten. Offensichtlich hat die Wissenschaft im Koalitionsvertrag kein Gehör gefunden. Daher seien hier die wichtigsten Forderungen des Appells genannt:
- Bildschirmfreie Grundbildung: Kitas, Kindergärten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei. Die negativen Erfahrungen mit Frühdigitalisierung in den skandinavischen Ländern, der fehlende Nutzen, das Ablenkungspotential und sogar negative Auswirkungen von digitalen Endgeräten im Unterricht für Lernprozesse, Aufmerksamkeit, Konzentration begründen den Einsatz analoger und manueller Medien und Techniken (Bücher, Schreiben auf Papier, Zeichnen). Der Digitalpakt Schule wird für Kita und Grundschule ausgesetzt.
- Smartphone- und Social-Media-Regulierungen: An Kitas und Schulen wird ein bundesweites Verbot privater digitaler Endgeräte (v.a. Smartphones, Tablets, Wearables/Smartwatches) eingeführt. Die Mediennutzung im Unterricht in höheren Klassen wird altersabhängig beschränkt. Siehe dazu auch die Empfehlungen zu Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche von den ersten Lebensjahren bis zu Sekundarstufe II, 2024 veröffentlicht im Kinder- und Jugendarzt, dem Verbandsorgan des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands.
- Mehr Lehrkräfte statt mehr Technik: Notwendig sind für Kitas, Kindergärten und Schulen mehr Erzieher:innen und qualifizierte Lehrkräfte, Psycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen. Das analoge Spiel und Naturerfahrungen, der Ausbau von Sport, handwerkliches Lernen, Musik und Theaterspielen müssen schon in der Grundschule im Lehrplan verankert werden.
- Unabhängigkeit von Tech-Konzernen: Werden digitale Geräte im Unterricht gebraucht, werden ausschließlich von der Schule gestellte Geräte genutzt, der Zugang zu Webdiensten ist zu unterrichtsrelevanten Seiten („White List“) möglich. Nutzung von Open-Source-Software und Datenschutz-konformer IT in Schulen. Die IT-Branche darf keine Sitze in den Beratungsgremien der Bildungspolitik haben.

Die Alternativen für einen Ausweg aus der Bildungskatastrophe liegen vor. Bisher hört die Politik auf die Einflüsterungen der Industrie.
Die UnterzeichnerInnen des Appells der 75 Experten fordern die Bundesregierung auf, einen Richtungswechsel in der Bildungspolitik hin zu einer Erziehung zur Medienmündigkeit einzuleiten. Erste Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen sollten ein Stopp der Digitalisierung, die Annullierung des Digitalpaktes 2.0 und Smartphone- und Social Media-Verbote bis zum 16. Lebensjahr sein. Digitale Medien dürfen kein Ersatz für LehrerInnen- und ErzieherInnen werden, dieser Kern der Digitalen Bildung ist abzulehnen. Digitale Medien als Hilfsmitten müssen nach einem pädagogischen eingesetzt werden.
Mehr dazu auf: https://die-pädagogische-wende.de/aufruf-bildungspolitik-2025/
Fazit aus dieser Artikelserie: Der Gemeinderat muss seinen Beschluss entsprechend den schulpädagogischen Erkenntnissen korrigieren. Es braucht eine öffentliche Debatte, auch im Gemeinderat, über die Rolle der digitalen Medien bei Kindern und Jugendlichen, über die Ursachen und Lösungen der Bildungskatastrophe, auch in Stuttgart.
Autor: Peter Hensinger, SÖS Newsletter-Redaktion
Bilder: Monkey Business – stock.adobe.com / Montage:diagnose:funk, pexels-max fischer, BGHM, privat
Teil I und II der Artikelserie auf der SÖS-Homepage:
https://s-oe-s.de/2025/04/28/digitalisierung-von-kitas-und-schulen/
https://s-oe-s.de/2025/05/06/bildungskatastrophe-und-oekonomisierung-der-bildung/
Literatur und Quellen:
BGHM (o.D.): Ein Beispiel sind die Regelungen der Berufsgenossenschaft Holz und Metall: https://www.bghm.de/arbeitsschuetzer/praxishilfen/arbeitsschutz-kompakt/065-bildschirmarbeit
Bleckmann, P (2023): Lehrstuhl Medienpädagogik Univ. Alfter: https://www.analog-digidaktik.de/ .
Erziehende finden hier Unterrichtsbeispiele für die Erziehung zur Medienmündigkeit in Kitas und Grundschulen
Bleckmann, P., Denzl, E., Streit, B. (2023): Medienmündig statt mediensüchtig werden-Begriffe, Praxis und Programme im interdisziplinären Handlungsfeld Medienprävention, in: Möller / Fischer (2023): Internet- und Computersucht. Ein Paxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern, 3. Auflage, Kohlhammer Stuttgart
Bleckmann P, Lankau R (2019): Digitale Medien und Unterricht, Beltz
Bundesamt für Strahlenschutz (2012): „Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) empfiehlt generell, die persönliche Strahlenbelastung zu minimieren, um mögliche, aber bisher nicht erkannte gesundheitliche Risiken gering zu halten. Einfache Maßnahmen sind hierfür:
- Bevorzugen Sie Kabelverbindungen, wenn auf Drahtlostechnik verzichtet werden kann.
- Vermeiden Sie die Aufstellung von zentralen WLAN-Zugangspunkten in unmittelbarer Nähe der Orte, an denen sich Personen ständig aufhalten, zum Beispiel am Arbeitsplatz.
- Falls vorhanden, stellen Sie die Reichenweitenbegrenzung ein, um die maximale Strahlungsleistung zu reduzieren.“
Engartner, T (2024): Raus aus der Bildungsfalle. Westend
Hensinger P (2023): „Paradigmenwechsel ante portas: „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ erschienen, eine Einordnung“ , umwelt-medizin-gesellschaft, 4/2023
Lankau, R (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz. Lehren aus der Pandemie, Beltz
Lankau, R (2022): Kein Mensch lernt digital, Beltz
Lankau, R (2021): Autonom und mündig am Touchscreen, Beltz
Leitlinie (2023): „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“, https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=2005
Britische Studie zum Smartphone-Verbot: Lernleistungen bis zu 2 Noten verbessert!
https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail&newsid=2200
Lesch H / Zierer K (2024): Gute Bildung sieht anders aus. Welche Schulen unsere Kinder brauchen, Penguin
Möller C / Fischer FM (2023): Internet- und Computersucht. Ein Paxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern, 3. Auflage, Kohlhammer Stuttgart
Spitzer M (2022): Digitalisierung in Kindergarten und Grundschule schadet der Entwicklung, Gesundheit und Bildung von Kindern, Nervenheilkunde 2022; 41(11): 797-812
DOI: 10.1055/a-1826-8225 https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1826-8225
Teuchert-Noodt G, Hensinger, P (2025): No way out of the smartphone epidemic without taking into account the findings of brain research, J Neurol Neurosci, 16 (01) 2025 : 001-011
Telekom Bedienungsanleitung Router (2017): „Die integrierten Antennen Ihres Speedport senden und empfangen Funksignale bspw. für die Bereitstellung Ihres WLAN. Vermeiden Sie das Aufstellen Ihres Speedport in unmittelbarer Nähe zu Schlaf-, Kinder- und Aufenthaltsräumen, um die Belastung durch elektromagnetische Felder so gering wie möglich zu halten.“.
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