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Gemeinderat: Was hinterlassen wir unseren Kindern? Das Kippen der Klimaziele verhindern!

5. Dezember 2023

Interview mit Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS)

Unsere SÖS-Stadträte Hannes Rockenbauch und Guntrun Müller-Enßlin haben gemeinsam mit den weiteren Kolleg:innen unserer Gemeinderatsfraktion zu den Haushaltsberatungen 61 Anträge zu den Themen Klimaschutz, Klimaanpassung und Klimagerechtigkeit eingereicht. Das Ziel: Stuttgart bis 2035 zu einer klimaneutralen Stadt zu machen. SÖS-Stadtrat und Fraktionsvorsitzender Hannes Rockenbauch ist fassungslos, wie durch die sogenannte sozial-ökologische Mehrheit im Gemeinderat diese Chance vergeben wird.

SÖS: Hannes, in deiner Haushaltrede am 19. Oktober hast du scharf kritisiert, der Haushaltsentwurf von Oberbürgermeister Frank Nopper werde dem vom Gemeinderat vor einem Jahr beschlossenen Ziel der Klimaneutralität bis 2035 nicht gerecht. Korrigiert die ökosoziale Mehrheit den Haushaltsentwurf des Oberbürgermeisters in den Beratungen? 

Hannes Rockenbauch: Nein! Mit den bis jetzt beschlossen Planungen wird Stuttgart 2035 weder klimaneutral noch werden wir unserer Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen gerecht. Alle Maßnahmen, die zur Klimaneutralität notwendig wären, werden höchstens angetippt. Das, was gerade eine Ausschussmehrheit von GRÜNEN, SPD und PULS in den Vorberatungen auf den Weg bringt, ist der OB-Nopper-Haushalt plus ein bisschen grüner Kosmetik. Statt einer entschiedenen Kurskorrektur wird Symbolpolitik gemacht. Dabei wissen alle, die es wissen wollen: Stuttgart muss sich auf deutlich mehr Extremwetter einstellen.

Laut Studie rechnen Experten im Jahr 2050 mit bis zu 50 Prozent regenreicheren Wintern und deutlich mehr Starkregen. Gleichzeitig werden sich die Hitzetage mit über 30 Grad Celsius mehr als verdoppeln. Die Kessellage macht Stuttgart zu einem Hotspot der Hitzewellen, weil alle verdichteten Baumaterialien die Wohnviertel zu Glutöfen machen können. Wenn wir angesichts der rasanten Erwärmung keinen deutlichen Schnitt machen und Stuttgart umbauen, wird es 2050 im Kessel unerträglich sein. Was hinterlassen wir da unseren Kindern?

SÖS: Das bedeutet, dass wieder einmal eine Chance vertan wird?

Hannes Rockenbauch: Ja, tatsächlich bin ich fassungslos. Vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe und den Prognosen der Wissenschaftler, dass Städte und Stuttgart besonders betroffen sein werden, dass uns nur noch ein Zeitfenster bis 2030 zum Umsteuern bleibt, ist die Anpassung dieser Fraktionen an angebliche Sachzwänge verantwortungslos.

SÖS: Kannst Du deine Vorwürfe konkretisieren?

Hannes Rockenbauch: Vier Beispiele möchte ich nennen, die ich besonders krass finde. Zur Wärmewende: Seit der Entwurf der Wärmeplanung fertig ist, wissen wir, dass wir pro Jahr eigentlich ein Förderprogramm von 300 Mio. Euro bräuchten, damit der damit verbundene Umbau für die Menschen in Stuttgart bezahlbar bleibt. Beschlossen wurden bis jetzt ca. 50 Mio. pro Jahr. Das klingt nach viel Geld, aber wir bräuchten eben jährlich sechsmal so viel Geld, wenn wir es mit Stuttgart klimaneutral bis 2035 ernst meinen.

Zum Zweiten: Der BürgerInnenrat Klima hat empfohlen, in allen Stadtteilen eine quartiersbezogene und aufsuchende Energieberatung anzubieten. Das ist ein absolut sinnvoller Vorschlag, denn ohne Beratung und Aktivierung wird es nicht gelingen, 5000 Heizungen pro Jahr entweder auf eine Wärmepumpe umzustellen oder an ein Wärmenetz anzuschließen. Die bis jetzt beschlossene Gelder reichen aber nur für ca. 500-700 Beratungen pro Jahr. Wer es mit der Wärmewende ernst meint, müsste also unsere Beratungskapazitäten fast verzehnfachen.

SÖS: Und zum Dritten …?

Hannes Rockenbauch: … die Verkehrswende: Nehmen wir nur mal den kleinen Bereich Radschnellwege. Die Machbarkeit Studie ist fertig. Der BürgerInnenrat Klima fordert die schnelle Umsetzung und die Verwaltung teilt uns mit, auch bei optimalem Verlauf und Personalaufstockung seien die Radschnellwege erst bis 2035-2045 umsetzbar. Das ist schon der Hammer, denn übersetzt heißt das nichts anderes, als dass die Verkehrswende erst nach 2035 umgesetzt sein wird. Wie aber sollen wir dann 2035 klimaneutral sein? Die Klimakatastrophe wartet nicht! Einen Vorschlag, wie sich alles beschleunigen lässt, bleibt die Verwaltung schuldig und unterläuft damit nicht nur den Klimarat, sondern auch den Klimaneutralitätsbeschluss des Gemeinderats. Übrigens, wenn wir gerade beim Thema Verkehrswende sind, wir dürfen Stuttgart 21 nicht vergessen. S 21 ist nicht nur eine Katastrophe für die Verkehrswende, nicht nur die gigantische Baumasse ist ökologisch eine Katastrophe, sondern die Versiegelung und Bebauung der Frischluftschneise durch das Rosensteinareal ist der programmierte Hitzekollaps. Aber keine andere Fraktion will das thematisieren.   

Gleisvorfeld: Eine grüne Lunge wird versiegelt – der geplante Weg zum Hitzekollaps!

SÖS: Zu den Themen Klimaschutz, Klimaanpassung und Klimagerechtigkeit hat allein unsere Gemeinderatsfraktion 61 Anträge eingereicht. Zum Beispiel Stuttgart zu einer blau-grünen Oase zu machen. Für wie viele dieser Anträge gibt es eine Unterstützung aus dem sog. ökosozialen Lager?

Hannes Rockenbauch: Wenn es Unterstützung gibt, dann nur die für Kleinigkeiten oder Symbolisches. Das ist das Ernüchternde. So haben wir für den Umbau zur klimaangepassten Stadt 40 Mio. Euro beantragt, beschlossen wurden jetzt lächerliche 1,2 Mio. Euro und noch ein paar Planungsmittel für Schwammstadtkonzepte.

SÖS: Wäre denn das Geld für umfassenden Klimaschutz da?

Hannes Rockenbauch: Uneingeschränkt Ja! Man muss nur mal hochrechnen, dass allein zwei Milliarden für Großprojekte wie den Abriss und Neubau der Schleyerhalle und den Umbau der Oper genehmigt werden sollen. Und gleichzeitig werden kleineren Theatern und Kunst- und Sozialprojekten kleine Förderbeträge gestrichen, was oft deren Existenz gefährdet. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mehr als eine Milliarde Steuergeld in die Entwicklung des Rosensteinquartiers fließen soll. Hier wird also für ein klimazerstörendes Bauprojekt unglaublich Geld und Personal gebunden, das wir dafür bräuchten, Stuttgart endlich klimagerecht umzubauen. Beides zusammen sind mehr als 3 Mrd. Euro in den nächsten Jahren. Mit soviel Geld würde sich wirklich was in Richtung Klimagerechtigkeit bewegen lassen.

SÖS: Die Stadt hatte einen BürgerInnenrat Klima einberufen, der viele gute Vorschläge erarbeitete. Seine Mitglieder kommen sich verschaukelt vor. Offensichtlich war es Beschäftigungstherapie.

Hannes Rockenbauch: Das was da gerade passiert, können wir nicht dulden. Die Arbeit des Klimarates wird gerade von zwei Seiten angegriffen.  Einmal geht es CDU, Freien Wählern und AfD, die in der Theorie oder zumindest in der Praxis die Klimakatastrophe leugnen, darum, das fein austarierte Verfahren mit ZufallsbürgerInnen als tendenziös hinzustellen. Ihnen passen einfach die Vorschläge nicht. Demokratie ist ihnen lästig. So schlägt der Klimarat vor, in Stuttgart jährlich 5% der Straßen-Parkplätze für mehr Grün und Radwege zurückzubauen. Verbissen kämpft die CDU um jeden Parkplatz. Sie klebt noch an der autogerechten Stadt. Ihre Politik ist immer noch getrieben von einer Wachstums- und Konsumideologie, die Umwelt und Natur zugrunde richtet.

Die andere Attacke kommt von der Stadtverwaltung selbst. Nehmen wir wieder als Beispiel die 5% Parkplatz Reduktion. Hier sagt die Verwaltung einfach, das sei unmöglich. Sie weigert sich sogar, für diesen Haushalt einen Vorschlag für Personal und Finanzmittel aufzustellen, wie man das Ziel dennoch erreichen könnte. Ich habe diese Arbeitsverweigerung in den Beratungen scharf kritisiert. Leider bekomme ich kaum Unterstützung von anderen Fraktionen. Sie nehmen das eher frustriert zu Kenntnis und wirken auf mich fast schon resigniert. Selbst die GRÜNEN begnügen sich damit, symbolisch die Umwelt-Themen mit Blick auf den Kommunalwahlkampf zu besetzen, sind aber weit davon entfernt, alles was nötig ist, auch zu beschließen. Dieses Verhalten finde ich katastrophal, weil so mit angeblicher Realpolitik der BürgerInnenrat Klima unterlaufen wird. Wir von SÖS und unsere Gemeinderatsfraktion werden diese Angriffe und das Unterlaufen des Bürgerrates nicht hinnehmen.

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SÖS: Gehören GRÜNE, SPD und PULS noch zum ökosozialen Lager im Gemeinderat?

Hannes Rockenbauch: Wenn das Kriterium für ökosoziale Politik ist, dass wir alles tun, um bis 2035 in Stuttgart die Verkehrs und Wärmewende umzusetzen, dass wir alles tun, um endlich unsere Schulen und Spielplätze zu sanieren, dass wir dafür sorgen, dass in Stuttgart das Leben und die Miete endlich bezahlbar wird und vor allem, dass wir alles tun, damit der Stuttgarter Kessel trotz Klimawandels bewohnbar bleibt, dann haben sie diese Mehrheit aufgekündigt. Dazu passt, dass es bis jetzt mit uns keine inhaltlichen Gespräche über den Haushalt gab. Sie scheuen eine offene und selbstkritische Diskussion. Ich bedaure diese Entwicklung sehr. Denn klar ist doch, wir brauchen GRÜNE, SPD und PULS, – zumindest solange SÖS keine absolute Mehrheit hat (lacht)– denn mit CDU und Co. droht der totale Rollback.

SÖS: Du hast auch noch berichtet, dass am Sozialen gestrichen wird, also auch diese soziale Komponente der erhofften sozial-ökologischen Mehrheit aufgekündigt wurde.

Hannes Rockenbauch: Ja, damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Unsere Kinder brauchen nicht nur eine klimatisch gesunde Umgebung, sondern auch gerade die Stadtkinder Spielplätze, Naturerlebnisräume, Bewegungserlebnisse, um gesund aufzuwachsen. Jetzt stimmten GRÜNE, SPD und PULS nur der Hälfte der Sanierungen, die sogar die Verwaltung für nötig hält, zu.  Ähnlich ist es bei den Schulsanierungen. Im Sozialbereich haben diese drei Fraktionen sogar den mageren Vorschlag des OB noch gekürzt. Darunter leiden z.B. die Aidshilfeberatung oder die Flüchtlingsarbeit von „just human“ und andere mehr.

SÖS unterstützt den Kampf gegen die Klimakatastrophe

SÖS: Du forderst für unsere Stadt „soziale Wärme.“ So sollte es zum Beispiel Menschen mit geringen Einkommen ermöglicht werden, kostenfrei den Nahverkehr in Stuttgart zu nutzen. Das wäre auch ein Schritt zum kostenlosen ÖPNV für alle. Wenn du die bisherigen Ergebnisse in den Beratungen siehst, fröstelt es dir da eher oder wird dir’s warm ums Herz?

Hannes Rockenbauch: Ich mache mir Sorgen. Ernsthafte Sorgen. Wir erleben doch momentan, wie dank Inflation und steigender Preise bei vielen Menschen das Verständnis für zusätzliche Investitionen in den Klimaschutz rapide abnimmt. Wir können den normal verdienenden Menschen nicht immer weitere Zumutungen aufbürden. Wir müssen und können der Mehrheit der Bevölkerung auch spürbare Entlastungen und neue Gemeinschaftsgüter anbieten, mit ihnen zusammen den Weg in eine klimagerechte Stadt erfolgreich zu bewältigen. Bezahlen müssen meiner Meinung nach die Profiteure der Klimazerstörung, die fossilen Konzerne, die Automobilkonzerne und natürlich die Superreichen. Ich halte das auch für dringend geboten, denn die Superreichen zerstören unseren Planeten auch 1000-mal mehr als der normal konsumierende Bürger. In unserer Gesellschaft ist genug für alle da, auch für konsequenten Klimaschutz, es ist nur falsch verteilt. Eine solidarische und klimagerechte Stadt ist ein Gewinn für alle, kein ferner Traum, sondern ein Projekt, an dem wir ab sofort arbeiten können. Bei der Vorstellung aller Möglichkeiten, die vor uns liegen, wird mir tatsächlich wärmer ums Herz. 

SÖS: Welche Konsequenzen siehst Du jetzt?

Hannes Rockenbauch: Die Stuttgarter Umweltinitiativen, von KUS bis Fridays for Future, und auch die Sozialinitiativen sind gefordert,  zu handeln, dass das Aussitzen und Anpassen ein Ende hat. Es wird sich nichts im Gemeinderat bewegen ohne öffentlichen Druck und Protest. Ich fordere die Initiativen auf, ihre Forderungen noch einmal vehement einzubringen und unsere Gemeinderatsfraktion, die viele dieser Forderungen als Antrag einbringt, zu unterstützen. Vielleicht können wir dann selbst in diesem Haushalt noch bis zur dritten Lesung was fürs Klima rausholen. Die Haushaltsberatungen zeigen auch, wie notwendig es ist, in der Kommunalwahl 2024 unser parteifreies Bündnis SÖS als die konsequent ökologische und soziale Kraft im Rat zu stärken. 

Das Interview führten Peter Hensinger und Paul Russmann von der SÖS – Newsletter-Redaktion

Bilder:
Titelbild und Gleisvorfeld: SÖS
„Klima kannste…“: Land Baden-Württemberg

Demo in Berlin: Fridays for Future


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