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Platzen die Blütenträume der Bahn?

22. Juli 2024

S21 – bei diesem Chaos blicken nur noch Spezialisten durch. Aber wie kommt man zum Durchblick? Wir baten das Aktionsbündnis, uns in einer Artikelserie zu informieren. Im ersten Beitrag klärt uns Dieter Reicherter darüber auf, dass die Bahn von der Stadt und dem Land keine weiteren Zahlungen bekommt und nun auf einer Finanzierungslücke von 7 Millarden Euro sitzt. Und dass der Stadt Stuttgart evtl. die Mittel für die Erschließung des Rosensteinviertels fehlen. Die Abwärtsspirale geht weiter.  

Gefragt nach den aktuellen Entwicklungen beim Projekt Stuttgart 21 kann Mensch sich in immer neue Ergänzungsideen, sprich Verschlimmbesserungen, vertiefen. Oder sich mit den finanziellen Auswirkungen des gescheiterten Projektes beschäftigen. In Zeiten der klammen Kassen entscheide ich mich zunächst für letzteres. 

Bis heute fast 7 Milliarden Mehrkosten

Die Deutsche Bahn AG und mehrere ihrer Töchter erhoben bereits im Dezember 2016 Klagen gegen ihre Projektpartner. Diese sind das Land Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und die Flughafen Stuttgart GmbH. Die Projektpartner sollten sich nach Überschreitung des damaligen Kostenrahmens von 4,526 Milliarden Euro an den nicht finanzierten Mehrkosten beteiligen, die bis heute den Kostenrahmen schon um ca. 7 Milliarden Euro übersteigen. 

Das Verwaltungsgericht Stuttgart kam am 7. Mai 2024 zum Ergebnis, der Bahn stünden keinerlei Forderungen gegen das Land, die Landeshauptstadt Stuttgart, den Verband Region Stuttgart und den Flughafen Stuttgart zu und wies die Klagen ab. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und plausibel. Denn es ist nicht Aufgabe von Gerichten, ins Blaue hinein eine Kostenaufteilung anzuordnen. Das wäre Sache der Beteiligten der Finanzierungsvereinbarung von 2009 gewesen, die juristisch schlechte Arbeit geleistet und sich in die Tasche gelogen haben.

Kenntnis von Kostenüberschreitung seit 2012?

Auf den Verlauf des Prozesses soll hier nicht näher eingegangen werden. Es stellt sich aber die Frage eines Prozessbetruges durch die Bahnunternehmen: Umstritten war die Frage, ob die Forderungen der Bahn deswegen verjährt seien, weil deren Verantwortliche schon im Jahr 2012 Kenntnis von der Kostenüberschreitung gehabt hätten. In diesem Fall hätte die Klage bis zum 31.12.2015 erhoben werden müssen und die erst ein Jahr später eingeklagten Forderungen wären von vornherein verjährt gewesen.

Ihre Kenntnis im Jahre 2012 bestritt die Bahn vehement. Insbesondere in den mündlichen Verhandlungen entstanden aus der Verjährungsfrage Wortgefechte bis hin zur Drohung, man werde interne Protokolle der Bahn einsehen müssen. Weil das Gericht zum Ergebnis kam, der Bahn stünden keine Ansprüche gegen die Projektpartner zu, spielte eine etwaige Verjährung für das Urteil keine Rolle. Allerdings liegen mir inzwischen interne Unterlagen des Bundeskanzleramts vom 5. Februar 2013 vor, die die damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Tag später abzeichnete. Aus ihnen ergibt sich eindeutig: Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn wussten bereits seit dem 12. Dezember von der Sprengung des Kostenrahmens um 1,1 Milliarden Euro sowie von zusätzlichen Kostenrisiken von weiteren 1,2 Milliarden Euro.

Statt Geldsegen Finanzierungslücke

Fakt bleibt, bei der Deutschen Bahn AG klafft nun eine riesige Finanzierungslücke. Statt eines Geldsegens von mehreren Milliarden bei einem Erfolg der Klagen (der zumindest die Landeshauptstadt und den Stuttgarter Flughafen an den Rand des Ruins gebracht hätte) muss sie nicht nur die Mehrkosten von jetzt schon 7 Milliarden Euro, sondern auch weitere zu erwartende finanzieren. 

Das Urteil sowie die drastische Kürzung der versprochenen Zuschüsse des Bundes an die heillos verschuldete Bahn zwingen zu radikalem Umsteuern. In einer Verlautbarung spricht die Deutsche Bahn AG sogar davon, sie müsse ihre „Geschäftsfähigkeit“ erhalten. Das längst überfällige Umdenken, die marode Infrastruktur in Schuss zu bringen und die Finger von prestigeträchtigen Großprojekten zu lassen, wird sich – so viel ist absehbar – auch direkt auf Stuttgart 21 auswirken. Dies betrifft nicht nur die Ausführung von noch im Bau befindlichen Teilen, sondern auch die enormen Mittel, die für den Digitalen Knoten Stuttgart vorgesehen waren und deren vollständige Freigabe plötzlich fraglich geworden ist.

Schmalhans Küchenmeister bei Bahn und Stadt

Doch nicht nur bei der Bahn ist Schmalhans Küchenmeister. Die Haushaltslage der Landeshauptstadt alarmiert jüngst nicht nur die Öffentlichkeit, sondern ruft das Regierungspräsidium als Aufsichtsbehörde auf den Plan. Wird sich Stuttgart die Erschließung und den Bau des Rosensteinviertels für mehr als 1 Milliarde überhaupt noch leisten können? Wird die Stadt die Mieten dort derart subventionieren können, dass das Versprechen erschwinglichen Wohnraums erfüllbar ist? Welche Risiken der Bodensanierung, die Stuttgart von der Bahn gegen eine lächerliche Abstandszahlung übernommen hat, lauern im verseuchten Untergrund des Bahnhofsvorfeldes?

Haben die Beteiligten einen Plan B, falls die Blütenträume platzen? In den folgenden Teilen der Serie soll ein Blick auf die größten derzeitigen Probleme des Projekts versucht werden.

Dieter Reicherter
Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21

Die folgenden Teile der Serie veröffentlichen wir im September 2024.

Bild: Archiv privat, Karikaturen: Friederike Groß


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