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Tom Adler zu Stuttgart, der Automobilkrise, Entlassungen und Alternativen

9. Dezember 2024

Massenentlassungen in der Autoindustrie und den Zulieferern drohen. Was sind die Ursachen? Welche Folgen wird dies für die Region Stuttgart haben, in der 240 000 Arbeitsplätze direkt und indirekt am Auto hängen? Was sind die Alternativen? Zu diesem großen Problem führten wir ein ausführliches Interview mit Tom Adler. Tom Adler arbeitete bei Daimler und war dort von 1984 bis 2012 im Betriebsrat. Für die LINKE war er 12 Jahre Stadtrat in Stuttgart.

SÖS: Entlassungen drohen bei Daimler, Porsche und VW bis hin zu Zulieferern wie Bosch, Bertram oder ZF in Friedrichshafen. Vom Abbau von 190 000 Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie ist die Rede, ohne die Zulieferer! Wie ernst ist die Lage? 

Tom Adler: Die Lage ist schon ernst. Wir reden ja hier auch über Betriebe, die mit guten Löhnen meistens tarifgebunden sind und einen Betriebsrat haben. Wir müssen aber genauer hinschauen: Tatsache ist einerseits, dass es in den kommenden 15 Jahren zu großen Verwerfungen kommen kann. Tatsache ist aber auch andrerseits, dass es eine mediale Begleit-Kampagne gibt, die die Belegschaften schon heute zum Kopfeinziehen bringen und die Gesellschaft für Rücknahme von Sozial- und Umweltstandards gefügig machen soll. Zum Ernst der Lage prognostiziert eine Studie des IMU-Instituts, dass bis 2040 bis zu einem Drittel der Arbeitsplätze im regionalen „Automobil-Cluster“ verschwinden könnten. Grund dafür seien v.a. Digitalisierungsprozesse von der Entwicklung bis zur Produktion, die Verlagerung der Produktion und der Entwicklung in die Länder der Absatzmärkte und die Produktion in Niedriglohnländern Osteuropas. 

SÖS: … und das Aus für den Verbrenner?

Tom Adler: Ja, dazu kommt, dass die deutschen Premium-Hersteller und ihre politische Lobby lange arrogant ignoriert haben, dass in China massiv Ressourcen in massentaugliche E-Autoentwicklung gesteckt wurden. Während hier bis heute Unsicherheit erzeugt wird mit einem Technologieoffenheits-Gequatsche. Sylvia Stieler vom IMU-Institut sagte bei der Vorstellung ihrer Studie: „Wenn man mit Autoherstellern spricht, sagen die schon: wenn die Politik uns klare Ziele vorgibt, setzen wir die auch um. Aber sobald sie Schlupflöcher sehen, lassen sie es einfach bleiben und gucken, dass sie mit ihrem bisherigen Geschäft, mit dem sie ja über Jahrzehnte gut gefahren sind, weiterhin gut fahren.“ (1) Darüber hinaus werden für den Bau von Elektroautos weniger Arbeitskräfte gebraucht.

Dabei geht das IMU davon aus, dass der Autoabsatz 2040 so hoch sein wird wie heute. Die notwendige radikale Verkehrswende – mit Kapazitätsabbau in der Autoproduktion einerseits und Kapazitätsaufbau z.B. in der Produktion von öffentlichem Verkehr fände nicht statt. 

Dinosauriere. Die Mercedes S-Klasse ist ab 112.000 Euro und der Maybach ab 170.000 Euro erhältlich. Luxus für Reiche, zerstörerisch für die Umwelt: „Keine rationale aufgeklärte Gesellschaft bräuchte eine S-Klasse-Produktion. Das Klima schon gar nicht.“ (Tom Adler)

SÖS: Du gibst zwei Hauptursachen an: Die Konkurrenz aus China und das Verschlafen der Umstellung auf das Elektroauto. Ich möchte mal provokativ fragen: Wer braucht eine S-Klasse? Wer braucht eine Massenproduktion von Elektroautos? Ihre Produktion frisst nicht nur Ressourcen, sondern verhindert auch eine intelligente Mobilität!

Tom Adler: Deine Frage „Wer braucht eine S-Klasse?“ ist abstrakt einfach zu beantworten:  Keine rationale aufgeklärte Gesellschaft bräuchte eine S-Klasse-Produktion. Das Klima schon gar nicht. Was das E-Auto angeht: ein rationaler gesellschaftlicher Plan für eine das Klima schützende Verkehrswende bräuchte auch keine Massenproduktion von E-Autos, sondern lediglich eine Produktion von E-Auto-Restmengen, die nach einer Verkehrswende in der Fläche, hin zu Schiene, ÖPNV, Rad, Fußverkehr, noch sinnvoll und nötig ist. Wie groß die Restmenge sein muss, bleibt zu ermitteln.

Die Konkurrenz bezahlbarer E-Autos aus China auf europäischen Märkten und die zögerliche Umstellung der deutschen Autoindustrie auf bezahlbare E-Autos sind zwei Seiten derselben Medaille. Als in China schon längst alle Weichen auf die Produktion von Elektroautos umgestellt waren, wurde hier noch über E-Fuels usw. diskutiert. Wer dann wie z.B. Daimler das Geschäft ganz auf das Luxus-Segment und v.a. den chinesischen Markt ausgerichtet hat, wird ein riesiges Problem bekommen, weil die Nachfrage sogar in China abnimmt. 

SÖS: Die S-Klassen wurden zu Dinosauriern. Allerdings sieht die Autoindustrie wohl die Lösung nicht in einem Mix aus Autos, Schiene und ÖPNV, sondern in einer neuen Massenproduktion von E-Autos.

Tom Adler: Ja, allerdings stehen sogar die hier aufgebauten E-Auto-Kapazitäten ungenutzt herum. Siehe FORD-Köln – umgebaut zu einer reinen E-Autofabrik, droht dem Betrieb die Schließung. Auch in Untertürkheim bleiben für E-Auto-Komponenten frei gemachte Produktionsflächen offenbar ungenutzt. Während die vorher dort lokalisierten Verbrenner-Produktionen nach Osteuropa verlagert worden sind. Das sollte man nicht vergessen, wenn über Arbeitsplatzabbau in der Zuliefer- und Autoindustrie gesprochen wird: Ein Großteil verlorener Produktionen und Arbeitsplätze wurde – E-Auto hin oder her – in Länder mit niedrigen Löhnen und wenig durchsetzungsfähigen Gewerkschaften verschoben.

SÖS: In der Region Stuttgart haben wir kampferfahrene Belegschaften, gut organisiert in der IG Metall. Bei Bosch sind die Belegschaften gegen die Entlassungsankündigungen schon in Warnstreiks getreten. 

Tom Adler: Wenn sich, wie ich hoffe, gegen den Abbau und die Verlagerung von Arbeitsplätzen in den Auto- und Zulieferbetrieben Widerstand entwickelt, dann muss er unterstützt werden. Denn wer hier Solidarität verweigert mit der abwegigen Logik „weniger Autobeschäftigte= mehr Verkehrswende“, hat die Rechnung ohne die Gegner gemacht: aktuell ist doch deutlich zu sehen, dass das politische „Zeitenwende“-Rollback nicht nur militaristisch ist, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst hat. Klimaschutzziele sind in der Prioritätenliste weit nach hinten abgedrängt, eine Verkehrswende muss erst einmal wieder popularisiert und dann durchgesetzt werden.

Ich bin auch überzeugt davon, dass die Auto- und Zuliefererbelegschaften nicht – als auf Gedeih und Verderb ans Auto Gekettete – abgeschrieben werden dürfen, sondern als potentielle Bündnispartner der Klimagerechtigkeitsbewegung gesehen werden sollten. In den Köpfen der Kolleg*innen steckt so viel Produktionswissen, so viel Facharbeiter- und Ingenieursqualifikation, das für Umbau-Projekte gebraucht wird!

„Ich bin mir aber sicher: wenn es denn zu einer Bewegung und Kämpfen gegen Entlassungen kommt, entwickelt sich die Haltung der Kolleg*innen eher nach links, da wird zusammengerückt“ (Tom Adler). Im Bild: Belegschaft aus Sindelfingen im Streik im Jahr 2018.

SÖS: Wenn es denn wegen Personalabbau und Entlassungen zu Kämpfen kommt, könnte da nicht die rechtsextreme, AfD-nahe Pseudogewerkschaft „Zentrum Automobil“ an Einfluss im Betrieb gewinnen?  Sie setzen ja darauf, in Krisensituationen Sündenböcke zu konstruieren, z.B. Geflüchtete oder Menschen mit Migrationsgeschichte. 

Tom Adler: Das „Zentrum Automobil“ hat schon heute einen gewissen Einfluss im Betrieb, und zwar besonders in Bereichen, wo die Kolleg*innen sich mit ihren Tagesproblemen vernachlässigt fühlen, dort, wo keine kämpferischen und konfliktbereiten IG Metall-Betriebsräte das Ohr an der Basis haben. Wir kennen diese „Kümmerer“-Camouflage aus dem Osten Deutschlands, wo sich Faschisten erst mal als die netten Jungs von nebenan tarnen. Jahrelang hat das „Zentrum“ die Teile des Managements hofiert, die sich gegen die Umstellung auf E-Autoproduktion gestellt haben. Wie lange das noch trägt, um sich an Verbrenner-Fans unter den Kollegen anzuschleimen, kann ich nicht beurteilen. Ich bin mir aber sicher: wenn es denn zu einer Bewegung und Kämpfen gegen Entlassungen kommt, entwickelt sich die Haltung der Kolleg*innen eher nach links, da wird zusammengerückt, der Blick auf den tatsächlichen Gegner schärft sich, es entsteht Solidarität. Insofern würde ich umgekehrt annehmen, dass ein Szenario mit hart geführten Kämpfen und einem hohen Grad an Selbsttätigkeit der Kolleg*innen den Einfluss des „Zentrums“ zurückdrängt. 

SÖS: Eine Sache ist doch bemerkenswert. Daimler machte von 2021 bis 2023 in der Summe 51,8 Milliarden Gewinne nach Steuern und schüttete an die Aktionäre 16,5 Milliarden aus, VW machte im selben Zeitraum 49,2 Milliarden Gewinne und schüttete 12,7 Milliarden aus. Wie kann man dann von einer Krise reden? 

Tom Adler: Dieser Tage war in einem Radiokommentar zu hören, dass diese ausgeschütteten Milliarden  zwar „nicht in Ordnung“ seien, wenn man jetzt die Belegschaften zur Kasse bittet – „Aber leider halt nicht mehr rückgängig zu machen sind.“ Tatsächlich inszenieren sich große Unternehmen gern als philanthropische Dienstleister der Gesellschaft, die ihre Aufgabe vor allem darin sehen, benötigte Güter zu produzieren. Nur manchmal hätten sie halt auch Pech und kommen in eine Krise. Das haben die meisten Journalisten wohl genauso verinnerlicht. Dass für Aktiengesellschaften und die Aktienbesitzer letztlich kein andrer Unternehmenszweck relevant ist als maximale Verzinsung des angelegten Kapitals, wird verdrängt. Gewinnausschüttung also: Alles super!

Wenn statt geplanten 8% nur 3% Rendite erreichbar sind, wird restrukturiert und Personal abgebaut. Und wenn schon kurze Zeit nach der Ausschüttung die „ große Krise“ ausgerufen wird, hat das nicht nur den Grund, dass es tatsächlich eine Krise gibt: nämlich die nach wie vor existierenden weltweiten Überkapazitäten im Autobau, die auf die Profitmargen drückt. Und die abgebaut werden sollen. Die „große Krise“ jetzt so auszurufen, wie sie jetzt ausgerufen wird, hat aber eine weitere Funktion: die Gesellschaft und die Beschäftigten sollen auf eine bevorstehende Welle von Attacken auf bisherige Standards und auf Verzicht eingestimmt werden. Auf Rollbacks, die über die Autobranche hinausreichen. 

Die 60er Jahre: Rasanter Niedergang der US-Autoproduktion. Ruine der Packard-Fabrik, Packard Straßenkreuzer. Europäische und japanische Autos setzten sich gegen die Straßenkreuzer durch.

SÖS: Wenn also Entlassungen Realität werden können, wie wird sich das für Stuttgart auswirken? Ich habe da ein verarmtes und ruiniertes Detroit vor Augen. 

Tom Adler: Ob die Entlassungen in Stuttgart Realität werden und in welchem Umfang, ist doch noch nicht ausgemacht. Auch davor steht die Frage: wird es Gegenwehr geben? Entsteht Solidarisierung über den jeweils betroffenen Betrieb hinaus? Ordnen sich Gewerkschaften und Betriebsräte im Standort-Wettbewerb unter mit der Illusion, Schlimmeres zu verhindern? 

Stuttgart ist nicht eins zu eins „MotorCity“ Detroit. Der Niedergang der Zentren der US-Autoindustrie im Norden hatte auch nicht einfach nur die Konkurrenz aus China oder Europa als Ursache, sondern dass die US-Autobauer ihre Produktion verschoben haben, vom gewerkschaftlich gut organisierten Hochlohnstandort im Norden der USA in den weitgehend unorganisierten Süden mit weitaus schlechteren Löhnen und Arbeitnehmerrechten.

SÖS: Wenn Du jetzt noch Betriebsrat wärst, was würdest Du vorschlagen? 1984 warst Du am Streik für die 35-Stundenwoche gegen die damals drohende Arbeitslosigkeit durch die Rationalisierung beteiligt. Das sicherte nachweislich Arbeitsplätze. Ist heute die Arbeitszeitverkürzung auf 30-Stunden eine Lösung?

Tom Adler: Ganz sicher ist Arbeitszeitverkürzung ein richtiger Schritt. Flächendeckend 30 Stunden erscheint in diesen verrückten Zeiten zwar schon fast utopisch. Aber es gibt seit langem valide Berechnungen, die eine Arbeitszeit von 28 Stunden in der Woche für alle ermittelt haben, die es braucht, um die Gesellschaft mit den nötigen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Diesen Berechnungen lag noch nicht zu Grunde, dass eine wirklich klimawirksame konsequente Verkehrswende die Menge der gebauten Autos radikal reduzieren müsste. Das hat die vor einigen Jahren publizierte Studie „Mobiles Baden-Württemberg“ nachgewiesen. 

Für eine planvolle Reduzierung von Produktionskapazitäten im Autobau bräuchte es natürlich nicht nur Umstellungen in den Auto-Betrieben auf andere Produkte – Straßen- und Eisenbahnen zum Beispiel, sondern auch Arbeitszeitreduzierungen. Wir brauchen eine seriöse gesamtgesellschaftliche Rechnung, in die das alles einfließt, um zu sehen, wo welche Arbeitszeitbedarfe sind. 

SÖS: Die Daimler AG setzte wie alle Betriebe auf permanentes Wachstum. Nun setzt der Konkurrenzkampf unter ihnen selbst die Grenzen des Wachstums, eine Marktbereinigung findet statt. Und Du willst eine „gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitbedarfs-Rechnung“?  Stellst Du die Systemfrage?

Tom Adler: Ja, die drängt sich doch regelrecht auf. Schon eine gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitbedarfsrechnung ist ja mit der auf Konkurrenz statt Kooperation aufgebauten Logik unserer Gesellschaftsordnung nicht vereinbar. Ein Plan zum klimaschonenden Umbau schon gar nicht. Eine ökologische Modernisierung unter kapitalistischen Vorzeichen muss scheitern. Die Klimakatastrophe zwingt zu einem fundamentalen Umbau – by design or by desaster.  By desaster kann sich niemand wünschen. Und by design heißt: mit demokratischer Planung.   

Verkehrsexperte Winfried Wolf und Tom Adler, Vordenker einer umweltverträglichen Mobilität.

SÖS: Du warst schon in den 70er Jahren beim Daimler in der legendären Plakat-Gruppe aktiv. Habt ihr damals nicht schon vorausschauend eine Konversionsdebatte geführt mit dem Vorschlag, weg vom Individualverkehr, hin zu einer intelligenten Mobilität mit Bussen und Bahnen? 

Tom Adler: Die Plakat – Gruppe war ja entstanden in Konflikten mit den überaus unternehmensloyalen Betriebsräten. Zunächst standen also originär gewerkschaftliche Themen von Lohn- und Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der Betriebsarbeit der Plakat-Gruppe. Also letztlich Verteilungsfragen. Das hat sich während der 70er, Anfang der 80er Jahre verändert durch die immer stärkere gesellschaftliche Diskussion um ökologische und Verkehrsfragen. Denken wir an den Bericht des Club of Rome. Oder einen Spiegel-Artikel von 1969 von Stanford-Professor Paul Ehrlich mit dem Titel „Wir sind dabei, den Planeten Erde zu ermorden. Umweltverseuchung bis zum Jahre 1980“. 

Die Überkapazitäten in der Autoproduktion angesichts gesättigter Automärkte haben gleichzeitig auch in der Fabrik die Diskussion darüber befördert, wie das denn weitergehen soll. Auch die  Plakat-Gruppe hat sich der Frage gestellt: kann man denn in einer Fabrik, in der heute nur Achsen, Getriebe und Motoren für die PKW-Endmontagewerke gebaut werden, auch gesellschaftlich nützliche und ökologisch unschädliche Produkte herstellen? Wie müsste ein Produktions-System aussehen, das einen Umstieg auf andere Mobilität ermöglicht? Das stand am Anfang des Konzepts „Alternative Industriearbeit“. 

SÖS: Während Daimler für den kurzfristigen Profit plante, dachten Beschäftigte schon vor 45 Jahren voraus: Welche Produkte und Produktionsverfahren braucht es, um die Gesundheit der Belegschaft und die Umwelt zu schützen?

Tom Adler: Ja, wir dachten über beide Aspekte nach. Konkretisiert wurde das im Betrieb vor folgendem Hintergrund: Die Zerstückelung der Arbeit an den Montage-Bändern plagte und entqualifizierte die Kollegen massiv. In den mechanischen Fertigungen waren gigantische Automatisierungsschritte geplant, die für die Maschinenarbeiter in einer hunderte Meter langen Bearbeitungs-Transferstraße nur noch Restarbeiten übrig lassen würde. Monotonie, Qualifizierungs- und Lohnverlust waren zu befürchten. Diese Montagebänder und Transferstraßen wären gleichzeitig unflexible Einzweck-Maschinerie, auf denen eben nur „Auto“ produziert werden kann. 

Wir haben dem Fließband-Montage-Konzept des Vorstands ein Konzept von autonomen Montage-Inseln gegenübergestellt, mit Puffern statt Zwangstakten, mit viel umfangreicheren Arbeitsinhalten statt völlig zerstückelter Arbeit. Gegen die dequalifizierende Transferstraßen-Strategie haben wir ein Fertigungsinsel-Konzept gestellt, das mit flexibler statt Auto-Einzweck-Maschinerie nicht nur hohe Qualifikation, sondern auch Produkt-Flexibilität ermöglichen würde. 

Mit dieser „Alternativen Industriearbeit“ haben wir beides zusammengebracht: die Interessen der Kolleg*innen an qualifizierter und deshalb gut bezahlter Arbeit einerseits. Und andererseits ein Konzept, mit dem in den bisherige Autofabriken die stoffliche Voraussetzung geschaffen werden kann für die Umstellung auf soziale und gesellschaftlich nützliche Produkte. Deshalb wurde das Konzept auch an der Basis intensiv diskutiert. Die Werksleitung musste in Briefen an die Führungskräfte und auf Betriebsversammlungen ihre Strategie verteidigen. Das hat über ein ganzes Jahr lang die Diskussion im Betrieb geprägt.

Protestaktion des Klima- und Umweltbündnisses Stuttgart (KUS) vor dem Daimlerwerk Untertürkheim gegen die Umweltschädlichkeit der Verbrenner vor 10 Jahren

SÖS: Noch einmal provokativ gefragt: Das Stuttgarter Herz hängt angeblich am Auto, die Kolleginnen und Kollegen sind stolz auf das, was sie produzieren. Aber müssen wir nicht angesichts der Klimakatastrophe, des Ressourcen- und Energieverbrauchs der Autoproduktion, auch des Elektroautos, wieder eine Konversionsdebatte führen? Vielleicht über eine Zukunft ohne eine Autoindustrie, oder eine ganz andere Mobilitätsindustrie?

Tom Adler: Werner Breitschwerdt, damals Daimler-Konzernchef, hat den Blick in dieser Diskussion um „Alternative Industriearbeit“ in der Mitarbeiterzeitschrift geweitet: „Die heute so oft gestellte Frage, ob das Auto Zukunft hat, kann damit im Kern als Frage der Zukunft unserer Technik überhaupt und damit letztlich auch als Frage nach der Zukunft unsrer Kultur insgesamt verstanden werden.“ Sicher mit dem Ziel, dass alles so mit „unserer“ Technik und „unserer“ Kultur weiter gehen möge wie bisher. Aber immerhin: die Fragestellung war richtig. 

Wie sehr heute das „Stuttgarter Herz“ am Auto hängt, ist doch ziemlich offen. Die Hälfte der Einwohner der Stadt Stuttgart hat schon mal gar keines, sondern ist – freiwillig oder nicht –  mit dem ÖPNV, dem Rad und zu Fuß unterwegs. Und auch den größeren Teil der anderen Hälfte halte ich wenigstens für ambivalent und für eine lebenswerte Stadt zu gewinnen: mit deutlich weniger und langsamerem Autoverkehr, mit guter Rad- und Fußgänger-Infrastruktur und einem guten ÖPNV, bestenfalls mit Nulltarif. Denn das verbessert spürbar Lebens-, Wohn- und Gesundheitsqualität.  

Zusammen mit den tausenden von Entwicklern liegt in den Belegschaften ein unglaubliches Konversionspotential – wenn es nicht länger in der Sackgasse Autoproduktion vergeudet wird. Und – sehr wichtig! –  wenn die nachvollziehbaren Bedürfnisse der Kollegen nicht mit sterilen Parolen im Stil von „Daimler und Porsche abwickeln!“ zurückgewiesen werden. Das öffnet weder Köpfe noch Herzen für eine neue Konversionsdebatte. Die ist aber so bitter nötig, und daran arbeiten u.a. Verkehrswende-Initiativen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Linke. 

SÖS: Lieber Tom, wir gehen spannenden Zeiten entgegen. Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Peter Hensinger von der SÖS-Newsletter Redaktion. 

Artikel von Tom Adler über seine Erfahrungen im Stuttgarter Gemeinderat: https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/536/ein-braesiger-filz-7589.html 

(1) Zitat aus: Kontext-Wochenzeitung Nr.714, 4.12.2024

    Bildnachweise in der Reihenfolge: J. Röttgers, Wikipedia, Pressebild IGM Sindelfingen, Wikipedia, Tom Adler, Peter Hensinger


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