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Kultur als Kitt der Gesellschaft, Teil 2

30. Mai 2023

2. Teil des Interviews mit SÖS-Stadträtin Guntrun Müller-Enßlin

Vieles läuft gut in der Kultur in Stuttgart, doch zwischen den „Flagschiffen“ und der „Freien Szene“ gibt es Unterschiede, erfuhren wir vergangene Woche im 1. Teil des Interviews mit unserer SÖS-Stadträtin Guntrun-Müller Enßlin. 

Stuttgart besser als Wanne-Eickel?

SÖS: Als eines Deiner Hobbys erfindest Du Geschichten und schreibst leidenschaftlich gerne Romane und Erzählbände. Deine Werke tragen Titel wie: „Wenn der Mond erzählen könnte“, „Picknick in der Provence“ oder „Stuttgart ist besser als Wanne-Eickel“. Was gefällt Dir besonders in Stuttgart – auch im Vergleich zu anderen Städten, die Du kennst?

Guntrun Müller-Enßlin: Am besten hat mir Stuttgart in der hohen Zeit des Widerstands gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 gefallen. Damals hat sich mir die Stadt mit ihren wunderbaren Menschen, die gegen das dümmste Großprojekt seit dem Turmbau zu Babel aufgestanden sind und demonstriert haben, von einer Seite gezeigt, die ich bis dahin nicht kannte. 

Schuhschachtel-Bebauung am Killesberg

Früher fand ich Stuttgart immer ein bisschen verschroben und kleinbürgerlich, und ich habe lange bedauert, dass es mir mein Beruf verwehrt hat, in Berlin oder Hamburg zu arbeiten. Schade, dass der Bahnkonzern und eine ihm willfährige Politik den Erfolg unserer Bewegung vereitelt hat. 

Mich lässt manchmal verzweifeln, dass diese Stadt, die so viele tolle Architekten hervorgebracht hat, einerseits hirnlos Gebäude abreißt und andererseits in Sachen Neugestaltung nichts Besseres zustande bringt als etwa das Dorotheenviertel oder die Schuhschachtel-Bebauung am Killesberg. Der neue Marktplatz-Belag wäre eine Lachplatte, wenn er nicht so teuer gewesen wäre. Überhaupt – Beläge: Das Flickwerk verschiedenster Straßen- und Gehsteigbeläge überall in der City ist unerträglich. 

Romanschreibend auf Bank am Bopser

Aber ich sollte doch sagen, was mir – außer der Kulturlandschaft – an Stuttgart gefällt: 

Wandernd oder radelnd im vielen Grün unterwegs zu sein, auf das man trifft, wenn man die Betonwüste der Innenstadt, in der sich Baustelle an Baustelle reiht, mal hinter sich gelassen hat. Aus der Ferne, etwa wenn man aus der Halbhöhe auf die Stadt hinabblickt, finde ich Stuttgart viel schöner, als wenn ich mittendrin bin. 

Zum Beispiel am Bopser: Dort auf einer Bank sitzend an meinem neuen Roman schreibend, der unter anderem in Stuttgart während der Zeit zwischen 1925 und 1945 spielt, mag ich Stuttgart ganz gern. Auch die Abende im Amadeus mit Freunden. Die Butterbrezeln im Café Nast, die schon meine Großmutter gekauft hat, der Vogerlsalat im Ochs’n Willy. Beim Osiander oder Wittwer oder in einer der kleinen Stadtteilbuchhandlungen nach Büchern stöbern und sich festlesen. Riesenrad fahren auf dem Frühlingsfest am Cannstatter Wasen. 

SÖS: Guntrun, Du sitzt auch für den Johann Friedrich von Cotta-Literatur‐Preis in der Jury. Wer schlägt die Preisträger*innen vor, und nach welchen Kriterien entscheidet die Jury?

Eine Ehre mitzuentscheiden 

Guntrun Müller-Enßlin: Der Cotta Literatur- und Übersetzungspreis der Landeshauptstadt Stuttgart wird im dreijährigen Turnus an jeweils eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller sowie eine Übersetzerin oder einen Übersetzer verliehen. Dotiert ist er mit 20.000 Euro.

Der Jury gehören Autor*innen, Übersetzer*innen, Literaturkritiker*innen und Lektor*innen an, sowie der Kulturbürgermeister und Mitglieder aus dem Gemeinderat. Die Kriterien betreffen Sprache, Aktualität, Erzählweise, Originalität, etc. Als Literaturbegeisterte, die auch selbst schreibt und veröffentlicht, finde ich diese Jury unglaublich spannend und empfinde es als eine Ehre, ihr angehören und mitentscheiden zu dürfen.

Mein Wunsch: Einheit von Haus und Park

SÖS: Du lässt ja auch nicht locker in der unendlichen Geschichte um das vom Abriss bedrohten Wohnhaus des 2005 verstorbenen berühmten Stuttgarter Malers, Grafikers und Bildhauers Otto Herbert Hajek. Gibt es dort was Neues?

Guntrun Müller-Enßlin: Ja, tatsächlich. Im März hat das Referat Pätzold dem Investor der Villa Hajek Markus Benz, der die Stadt seit Jahren an der Nase herum führt, endlich ein Ultimatum gestellt, bis wann er die Entwürfe zum Rückbau der denkmalgeschützten Villa vorzulegen hat. Man kann dieses Ultimatum auf einen von SÖS kurz zuvor gestellten Antrag zurückführen, in dem wir genau das gefordert haben.

Jüngste Nachfragen ergaben, dass die von Benz geforderten Unterlagen tatsächlich termingerecht eingegangen sind. Man könnte also hoffen, dass es in Sachen Hajek-Erbe nun endlich einen Schritt vorwärtsgeht. Geplant ist ja auch ein Skulpturenpark mit Hajek-Werken auf dem Hasenberg. Meine und unsere Haltung dazu bei SÖS ist, dass Haus und Park bei der Planung eine Einheit bilden sollten und dass eine nicht ohne das andere denkbar ist.

SÖS: Herzlichen Dank für das Interview. Das Interview führte Paul Russmann (SÖS-Newsletter-Redaktion, Fotos: Guntrun Müller-Enßlin)


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