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Ehrenmünze für Gerhard Wick

16. September 2024

„Auf vielfältige Weise das Leben in Vaihingen geprägt“

Unser SÖS-Redaktionsmitglied Gerhard Wick wurde unter anderem für sein über 40jähriges politisches Engagement im Stuttgarter Bezirksbeirat Vaihingen mit der Ehrenmünze der Landeshauptstadt Stuttgart ausgezeichnet. Auf dieses langjährige, außerordentliche Engagement blicken wir mit diesem Interview. 

SÖS: „Lieber Herr Wick, es ist mir eine große Freude und Ehre, Sie mit der Ehrenmünze der Landeshauptstadt Stuttgart auszeichnen zu dürfen. Seit über vierzig Jahren prägen Sie das Leben in Vaihingen auf vielfältige Weise,“ so begann die Rede des Vaihinger Bezirksvorstehers Marcel Wolf bei der Übergabe der Auszeichnung, zu der wir dir von SÖS herzlich gratulieren. Was bedeutet dir diese Auszeichnung?

Gerhard Wick: Sie könnte ein Zeichen dafür sein, dass mein Engagement im Bezirksbeirat und vor allem auch in zahlreichen Einwohner:innen Initiativen und Vereinen von der Stadtverwaltung nicht mehr nur als lästig und die herrschenden Kreise störend empfunden wird, wie es wohl lange Zeit der Fall war. Besonders gefreut hat es mich aber, dass die Auszeichnung

auch für die Herausgabe der Stadtbezirkszeitung „VorOrt“, die dieses Jahr ihr 25-jähriges Jubiläum feiert, vergeben wurde.

Aufgewachsen mit den „Schmuddelkindern“

SÖS: Du prägst „das Leben in Vaihingen auf vielfältige Weise,“ heißt es in der Laudatio. Was verbindet dich biographisch mit dem flächengrößten der 23 Stuttgarter Stadtbezirke? 

Gerhard Wick: Ich bin zwar in Bad Cannstatt geboren, lebe aber seit nur wenigen Tagen nach meiner Geburt in Vaihingen. Zuerst im Stadtteil Rohr bis meine Straßenseite Ende der 50iger Jahre dem neu entstandenen Stadtteil Dürrlewang zugeschlagen wurde. Die Grundschule besuchte ich dann ab der vierten Klasse in der dort neu gebauten Schule, zusammen mit Kindern aus Dürrlewang, die von vielen alten Rohrern als Asoziale abgestempelt wurden. 

Das Aufwachsen mit den „Schmuddelkindern“ war schon mal ein ganzes Stück prägend für mein späteres Engagement in der Bürger-Initiative Rohr/Dürrlewang, die sich für eine Verbesserung der Wohnverhältnisse in den SWSG Einfachstwohnungen und für Gemeinschaftseinrichtungen einsetzte. Damals noch bei den Jungsozialisten aktiv, beeindruckte mich vor allem der Zusammenhalt und der Gemeinschaftssinn der „asozialen Eindringlinge“, die sich wohltuend abhoben von dem fast schon isolierten Leben in den Einfamilienhäusern ein paar Straßen weiter, wo ich wohnte.   

Vaihinger Bürgerinitiative gegen den Fernomnibusbahnhof stoßt
auf ihren Erfolg an

Karriere und Reichtum gleichgültig

SÖS: Im Laufe der Zeit hattest du allerlei Berufe: Lehrer, Sozialarbeiter, Betriebsratsvorsitzender bei der AWO Stuttgart, Lagerhilfe und EDV Betreuung im Naturkostladen Grünschnabel. Bis heute existiert ein von dir wesentlich mitaufgebautes, selbstverwaltetes Jugendzentrum in Stuttgart-Rohr und seit 1978 bist du Vorstandsmitglied im Stuttgarter Mieterverein. Beteiligt warst du auch an den Gründungen von Initiativen gegen einen Fernomnibus-Bahnhof in Vaihingen wie auch zum Schwabenbräu-Areal. Auch die Initiative  Vaihingen Ökologisch Sozial und das Bündnis „Vaihinger:innen für den Kopfbahnhof“ tragen deine Handschrift.  Wie kam es zu diesem bunten Strauß an beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten?“

Gerhard Wick:  Sowohl beruflich als auch in meinem ehrenamtlichen Engagement ging es mir immer darum, die Lebensverhältnisse und das Lebensumfeld vor allem der sozial Benachteiligten zu verbessern und ihre Chancen und Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes Leben zu befördern. Dabei ging es mir weder um Karriere noch darum, viel Geld zu verdienen. So fiel es mir leicht, meine Tätigkeitsfelder dorthin zu verlegen, wo ich für diese Ziele jeweils die besten Ansatzpunkte sah.

In der kirchlichen Jugend Flugblätter gegen Vietnamkrieg verteilt

SÖS: Du bezeichnest dich als Marxist. Was hat dich politisiert?

Gerhard Wick: Schon bei den Vorläufern des oben erwähnten Jugendzentrums, einer evangelischen Jugendgruppe, erfolgte eine vor allem moralisch begründete Politisierung. So verteilten wir z. B. während des Heilig-Abend-Gottesdienstes Flugblätter gegen den Krieg in Vietnam. Worauf uns die fromme Christenschar mit ihren Schirmen aus der Kirche jagte. 

Man kann es sich heute nur noch schwer vorstellen, aber mein Weg vom moralisch motivierten „Gerechtigkeitsapostel“ zum Marxismus erfolgte dann in der SPD bei den Jungsozialisten. Die trafen sich wöchentlich im Jugendzentrum und hielten dort unter anderem auch Schulungsabende über Dialektik, das Kapital und den historischen Materialismus ab. 

Hier habe ich gelernt, dass die Ideen von Karl Marx nicht einfach nur Träumereien sind, sondern eine wissenschaftliche Analyse, die zeigt wie der Kapitalismus funktioniert und es ermöglicht, das System aus sich heraus zu begreifen – ohne dass man auf irgendwelche Verschwörungstheorien über böse Kapitalisten zurückgreifen muss. 

Auf dieser Grundlage haben wir damals schon erkannt, dass wir eine Klimakatastrophe nur verhindern können, wenn wir den Kapitalismus überwinden. und von einer auf Ausbeutung von Mensch und Natur basierenden Produktions- und Verteilungsweise zu einer solidarischen und die natürlichen Grenzen des Wachstums berücksichtigenden Lebensweise fortschreiten.

Von der SPD über die Grünen zu SÖS

SÖS: Dein kommunalpolitisches Engagement im Bezirksbeirat begann bereits 1978 bei der SPD …?

Gerhard Wick: Ja, angefangen habe ich meine Bezirksbeiratslaufbahn bei der SPD. Damals war ich auch zusammen mit vielen Jungsozialisten in der Bürger-Initiative der Sozialwohnungsmieter in Dürrlewang aktiv. 1992 bin ich dann nach dem “Asylkompromiss” aus der SPD ausgetreten, weil damit die letzte Übereinstimmung mit dieser Partei, eine soziale Grundhaltung, aufgegeben wurde. Ich konnte aber noch das Mandat auf dem SPD-Ticket bis zur Neuwahl des

Bezirksbeirates 1994 wahrnehmen. Über diese Zeit betitelte später einmal die Filderzeitung ein Portrait über mich mit den Worten „Der Kommunist unter den Sozialdemokraten“. In der nächsten Bezirksbeiratsperiode saß ich dann – zunächst ohne Mitglied zu sein – für die Grünen im Bezirksbeirat. 

1997 wurde ich Mitglied, um auf der Grünen Liste zum Gemeinderat kandidieren zu können. Dann wurden die Grünen Mitveranstalter des ersten völkerrechtswidrigen Angriffskriegs in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Dass ich zusammen mit meinem damaligen Stellvertreter u.a. den Außenminister Joschka Fischer wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges angezeigt habe, nahmen mir die Grünen übel, strichen mich von der Gemeinderatsliste und widerriefen mein Bezirksbeiratsmandat. 

Ich nutzte die 10-jährige Bezirksbeiratspause bis 2009. Dann fand ich ich meine politische Heimat bei SÖS fand, um im Bezirksbeirat als Pressevertreter von VorOrt und Sprecher verschiedener Bürgerinitiativen präsent zu sein.

Gerhard – immer wieder beschützt durch Stuttgarts Polizei

Fester Anker im Bezirksbeirat

SÖS: Ist es nicht eher etwas ungewöhnlich, sich als Marxist auf die kommunalpolitische Ebene zu begeben?

Zu der Frage, was ein Marxist in der Kommunalpolitik zu suchen hat. Nun, Marxisten sind ja nicht nur für die Weltrevolution zuständig. Viele negative Auswirkungen des Kapitalismus werden für die Menschen gerade in ihrem direkten kommunalen Lebensumfeld spürbar und auch dort entschieden. Und auch die Alternativen dazu müssen hier entwickelt und durchgesetzt werden. 

Leben wir in einer gesunden Umgebung oder unter vom Autoverkehr produzierten Schadstoffglocken? Können wir unsere Einkäufe bei einer guten Nahversorgung zu Fuß oder mit dem Rad erledigen oder brauchen wir dazu ein Auto? Was wird wo umwelt- und klimaverträglich oder eben nicht gebaut? Wie nimmt die Kommune ihre Aufgabe der Daseinsvorsorge für ihre Einwohner:innen wahr?  

SÖS: „Nicht nur im Bezirksbeirat sind Sie ein fester Anker und eines der Mitglieder, die am längsten dabei sind. Seit 1981 setzen Sie sich auch als Vorstandsmitglied des DMB-Mietervereins Stuttgart und Umgebung für die Rechte der Mieter ein,“ heißt es in der Laudatio. Wie wichtig war und ist dir dieses Engagement?

Gerhard Wick: Meine Tätigkeit im Vorstand des Stuttgarter Mietervereins geht auf mein frühes Engagement in der Bürger- und Mieter-Initiative Rohr-Dürrlewang zurück. Damals hatten wir einige gute Erfolge für die Mieter:innen zu verzeichnen, was mich motivierte, mich bis heute für die Rechte der Mieter:innen einzusetzen.

In 25 Jahren 75mal VorOrt erschienen

SÖS: Seit 1999 gibst du „VorOrt“ – Zeitung für das andere Vaihingen“ mit einer beachtlichen Auflage von 19.000 Exemplaren heraus. Was hat es mit dieser Publikation auf sich?

Gerhard Wick: Die „Initialzündung“ für unsere Stadtbezirkszeitung war unsere Empörung darüber, dass erstmals wieder ein Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung – und das auch noch bei einem sozialdemokratischen Kanzler und Grünen Außenminister – geführt wurde. Unser oben erwähnter Konflikt mit den Grünen und die nahezu komplett gleichgeschaltete Berichterstattung über den „Jugoslawienkrieg“ veranlasste uns, wenigstens auf Bezirksebene dem etwas entgegenzusetzen. 

So entstand die sich nun seit 25 Jahre haltende Idee, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen vor allem über die Geschehnisse in Vaihingen, aber auch darüber hinaus zu berichten. Vor allem weil die Vaihinger Leser:innen hier einiges über ihr direktes Wohnumfeld und sie betreffende Planungen erfuhren und Initiativen die Möglichkeit erhielten, ihre Meinung dazu öffentlich zu machen, fand das Blättchen einige Beachtung und wurde auch von vielen geschätzt, die inhaltlich nicht immer mit den darin gemachten Aussagen übereinstimmten.

Natürlich gab und gibt es auch etliche, die VorOrt als „Kommunisten-Pamphlet“ beschimpfen. Immerhin kann man beim Durchlesen der inzwischen 75 Ausgaben, die alle im Internet stehen, ganz gut nachvollziehen, was Vaihingen und seine Einwohner:innen in den letzten 25 Jahren kommunalpolitisch bewegte.

Stimme der Bürger:innen gegenüber Gemeinderat

BürgerInnen im Bezirksbeirat – Gerhard organisierte oft ein volles Haus

SÖS: Was hat Dich bewogen, Dich über so lange Zeit als Bezirksbeirat in Vaihingen zu engagieren? Wofür hast Du Dich als Bezirksbeirat besonders eingesetzt?

Gerhard Wick: Meine Beweggründe, inzwischen auch mit dem fünften Bezirksvorsteher im Bezirksbeirat zu bleiben, liegen vor allem darin, dass es für die Arbeit und Beachtung von Stadtbezirks-Initiativen, also Bürger:innen, die sich für den Schutz und die Verbesserung ihres Wohnumfelds einsetzen immer von großem Vorteil ist, wenn sie über Unterstützung im Bezirksbeirat verfügen und so einerseits frühzeitig erfahren, was auf sie zukommt und anderseits dort eine Stimme haben, die ihre Anliegen gegenüber Verwaltung und Gemeinderat vertritt.

Außerdem muss man bei der Geschwindigkeit, mit der in dieser Stadt beschlossene Verbesserungen für ihre Einwohner:innen umgesetzt werden, sehr lange dabeibleiben, um das Ergebnis seiner Bemühungen auch noch miterleben zu können.

Erfolgreiches Engagement

SÖS: Was ist dir gelungen? Und was waren deine größten Erfolge?

Gerhard Wick: Hier kann ich an das zuvor Gesagte anknüpfen. Entscheidungsprozesse laufen in dieser Stadt sehr zäh. Ich habe aber gesehen, dass Erfolge im Sinne der Bevölkerung doch eher und manchmal wohl auch ein bisschen schneller zu erzielen sind, wenn sie von aktiven und möglichst zahlreichen Einwohner:innen nachdrücklich gefordert werden. Deshalb denke ich auch, dass ein Bezirksbeiratsmandat – zumindest solange der Bezirksbeirat nur empfehlen und nichts entscheiden kann – nur Sinn macht, wenn man aktive Einwohner:innen hinter sich hat und diese vertritt. Das ist mir in einigen Fällen gelungen. So wurde zum Beispiel die Verlegung des Fernomnibusbahnhofes nach Vaihingen mit starker zusätzlicher Verkehrsbelastung verhindert, ebenso wie die im Anschluss geplante massive Bürobebauung des dafür vorgesehenen Geländes.

Die Vaihinger für den Kopfbahnhof organisieren den Protest gegen das Milliardengrab S 21 im Stadtbezirk

40 Jahre vom Antrag bis zur Verkehrsberuhigung

Auf einen Erfolg warte ich schon ziemlich lange in der Hoffnung, dass er noch in dieser Periode eintritt: Vor ca. 40 Jahren habe ich unterstützt von etwa 100 Anwohner:innen beantragt, eine mit 12 Metern absolut überbreite Wohnstraße, die gleichzeitig als Schleichweg ins Gewerbegebiet dient, zurückzubauen um eine Verkehrsberuhigung zu erreichen. Der Antrag wurde damals einstimmig angenommen. 

Seither wurden gefühlt an die 50 Gutachten, Machbarkeitsstudien, Bürgerbeteiligungen, Bebauungsplanentwürfe durchgeführt und erstellt. Für eine Realisierung fehlte dann mal das Geld, mal die notwendigen Planungskapazitäten oder die zuvor zu bauenden Umfahrungsstraßen. 

Nach 30 Jahren habe ich denselben Antrag noch einmal gestellt. Er wurde wieder einstimmig angenommen. Jetzt, nach weiteren langwierigen Planungen, Bürgerbeteiligungen, Bebauungsplanänderungen und Bürobeauftragungen wurde von der Verwaltung in Aussicht gestellt, dass die nun vor 2 Jahren auch vom Gemeinderat beschlossene Rückbaumaßnahme voraussichtlich 2026 realisiert werden wird.

SÖS: Herzlichen Dank für deine Antworten.

Das Interview führte Paul Russmann für die SÖS-Newsletter-Redaktion.
Bilder: Gerhard Wick

Lesen Sie dazu auch:
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