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Ausländerbehörde Stuttgart – unmenschliche Zustände sofort beenden!

26. September 2023

Interview mit Stadtrat Luigi Pantisano 

Als Stadtrat äußerte sich Luigi Pantisano deutlich in der Presse. Er ist in Waiblingen als Kind italienischer Einwanderer aufgewachsen und sitzt für die LINKE mit den SÖS-Stadträt:innen in unserer siebenköpfigen Gemeinderatsfraktion Die FrAKTION. Über die Zustände in der Ausländerbehörde, die Ursachen und Lösungen führten wir mit ihm ein Interview.

Luigi, Deine Kritik an den Zuständen in der Stuttgarter Ausländerbehörde in der Presse kam sehr emotional und glaubwürdig rüber. 

Sicher hängt dies mit eigenen Erfahrungen zusammen. Mit 14 Jahren musste ich selber zum ersten Mal zur Ausländerbehörde in Waiblingen, wo ich geboren und auf die Schule gegangen bin. Zur Ausländerbehörde musste ich, weil ich erstmalig eine eigene Aufenthaltserlaubnis beantragen musste. Im Amt in der Schlange, und das ist nun genau 30 Jahre her, standen vor mir zwei ältere Frauen mit Kopftuch. Sie waren türkische Staatsbürgerinnen. Sie waren sogenannte Gastarbeiterinnen der ersten Stunde. Obwohl sie verständlich Deutsch sprachen, gebrochen ja, aber verständlich, denn ich habe sie ja auch verstanden, wurden sie angeschrien, dass sie in Deutschland leben und Deutsch zu sprechen haben. Diese Ablehnungsunkultur besteht leider bis heute in den Ausländerbehörden fort. 

Du gehst sogar noch weiter und behauptest, das sei ein struktureller staatlicher Rassismus!

Ja, wir haben eine Gesetzgebung, die sich gegen Migration und oft direkt gegen Migrant:innen richtet, gegen Geflüchtete und selbst gegen jene, die in Deutschland geboren sind. Die Bürokratie ist auf Abschreckung ausgelegt. Es sind ja Menschen, die oft schon lange in Stuttgart leben und Stuttgarter:innen sind. Es dürfte eigentlich gar keine solchen Schlangen geben. Keine Einteilung in Menschen, die links ins Bürgerbüro dürfen und rechts, die in die Ausländerbehörde müssen. Es muss Schluss mit dieser diskriminierenden Politik sein. Aber statt etwas daran zu verändern, wird es in Stuttgart immer schlimmer.

Inzwischen übernachten verzweifelte Menschen vor der Behörde

Wenn das seit Jahren so ist, warum hat der Gemeinderat nichts unternommen und Beschlüsse für mehr Personal gefasst? 

Der Gemeinderat stellt seit Jahren unzählige Anträge zur Verbesserung der Situation: mehr Personal, bessere Entlohnung der Beschäftigten, Lotsen-Stellen. Vor 15 Jahren hätte es noch genug Bewerber:innen gegeben. Aber alle Hilferufe verhallten bei der Stadtspitze weitestgehend. Man muss es doch einmal beim Namen nennen: Wir hatten acht Jahre lang den CDU-Kämmerer Föll, der die Stadtverwaltung kaputtsparte, mit Unterstützung durch den Grünen Oberbürgermeister Kuhn und ihren jeweiligen Fraktionen. 

Der Karren ist aber jetzt sozusagen im Dreck, gibt es überhaupt eine schnelle Lösung? 

Ich möchte nochmals auf die Dramatik der Zustände zurückkommen. Inzwischen stellen sich viele schon am Vortag in die Schlange und übernachten vor der Behörde. Immer wieder auch Familien mit Kindern. Jeden Tag. Das ist unwürdig für Stuttgart, unwürdig für Menschen, die hier arbeiten oder hier Schutz suchen. Und welche Schicksale sich dahinter verbergen. 

Beispielsweise versuchte eine Erzieherin mehrere Tage in der Schlange, einen Termin zu erhalten. Eine studierte Pädagogin, über 50 Jahre alt, mit einem australischen Pass. Ist hier geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Kann perfekt Deutsch. Sie riskierte ihren Job, wenn sie nicht bald eine Verlängerung ihrer Arbeitserlaubnis bekommen würde. Da frage ich mich, welchen Sinn die ganzen Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung bringen, wenn wir hier lebende Erzieher:innen so behandeln?! Ein weiteres Beispiel ist ein junger Mann, Informatiker, der eine Übertragung des studentischen Visums hin zu einer Arbeitserlaubnis benötigt. Leider hat er bis heute keinen Termin bekommen und hat deswegen von seinem neuen Arbeitgeber direkt eine Kündigung bekommen. 

Es ist eine Abschottungspolitik gegenüber Stuttgarter:innen mit Migrationsgeschichte und gegenüber den neu ankommenden Geflüchteten. Was Nopper, Strobl, Kotz und alle anderen CDU-Politiker in Stuttgart aktuell betreiben ist – ich sage es klar und deutlich – Rassismus. Ja und auch SPD und Grüne machen im Bund und der EU bei dieser Abschottungspolitik mit. Das alles spielt der faschistischen AfD in die Hände. Es genügt nicht nur hier in Stuttgart solidarisch zu sein. Solidarität endet nicht an den Grenzen Stuttgarts – sonst ist jegliche Solidarität nur eine Heuchelei. 

Bleibt aber dennoch die Frage: Was tun? Wenn man die Nachrichten anschaut, die Zahl der Flüchtenden aus Kriegsgebieten, vom Klima bereits zerstörten Zonen, aber auch aus wirtschaftlicher Not, wird noch steigen!

Ja, was tun? Zunächst einmal überlegen, warum Menschen fliehen müssen! Europäische Staaten haben über 500 Jahre Länder und Menschen in Afrika, Asien und ganz Amerika kolonialisiert. Menschen wurden getötet, versklavt und ausgeraubt. Die natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen werden bis heute für unser kapitalistisches Wirtschaften ausgebeutet. Diese Geschichte hat die Wirtschaftsstrukturen zerstört und Kriege, die bis heute andauern, ausgelöst. 500 Jahre Kolonialisierung kommen jetzt als Bumerang zurück. Und wieder handelt die Politik nach der Devise „Europa first!“ – das ist der rassistische Geist der Migrationspolitik und der Asylgesetze.

Und die Klimakatastrophen, die Millionen in die Flucht treiben? Diese Katastrophen sind ebenfalls ein Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise, des Raubbaus von Ressourcen weltweit auch für den Bau von Porsches und Mercedes. Von diesem Raubbau haben wir bisher meist gut gelebt. Das rächt sich jetzt. 

Du willst also sagen, wir sind eigentlich in der Bringschuld, die Politik muss sich ändern und wir brauchen eine wirkliche Willkommenskultur? Aber die Menschen brauchen Soforthilfen. 

Ich möchte erinnern: Stuttgart ist offizieller Partner im Bündnis „Städte Sicherer Häfen/Seebrücke“. Dadurch bekundet Stuttgart nachdrücklich seine Bereitschaft, aus Seenot gerettete Menschen zusätzlich aufzunehmen. Im April 2020 hat sich der Gemeinderat dafür ausgesprochen. Die Situation ist nicht einfach, aber wo ein Wille da ist, da gäbe es schon längst Lösungen. An Geld fehlt es nicht. Oberbürgermeister Nopper weigert sich beharrlich, diesen Beschluss umzusetzen.

Es braucht jetzt schnelle Verbesserungen, die Nächte werden kalt. Wir haben eine Debatte im Gemeinderat beantragt und konkrete Vorschläge zur Verbesserung gemacht. Es braucht Sofortmaßnahmen, damit niemand mehr vor der Behörde übernachten muss. Es braucht Lotsen der Stadt, die schon früh und bevor sich eine Schlange bildet, aufklären und zumindest diejenigen nach Hause schicken, die gar nicht anstehen müssten. Es braucht bessere Informationen, auch für Arbeitgeber:innen, es braucht einen Warteraum im Warmen, Sitzgelegenheiten, Getränke und Toiletten. Und die Stadt hat eine Autonomie. Sie muss nur den Mut haben, bürokratische Schikanen außer Kraft zu setzen. 

Übrigens ist mir wichtig, klar zu stellen: Meine Kritik richtet sich nicht an die Kolleg:innen in der Ausländerbehörde, sondern an Ordnungsbürgermeister Maier und OB Nopper, die  gemeinsam diese ablehnende Haltung gegenüber Migrant:innen und Geflüchteten in die Öffentlichkeit tragen und die Last auf den Beschäftigten abladen. An dieser Stelle nochmals vielen Dank an Alle, die trotz allem noch durchhalten und diesen Job machen. 

Luigi, vielen Dank für die klaren Worte. 

Das Interview führte Peter Hensinger (SÖS Newsletter Redaktion)

Bilder: Luigi Pantisano


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